Linn Burchert: Das Bild als Lebensraum. Ökologische Wirkungskonzepte in der abstrakten Kunst, 1910-1960, Bielefeld: transcript 2019, 392 S., ISBN 978-3-8376-4545-3, EUR 44,99
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Theorien zur modernen Kunst pflegen eine zentrale Überzeugung hochzuhalten, die in der Idee von der "Überwindung der Naturnachahmung" kulminiert. Mimesis ist in diesem Sinne ein Prinzip, das der Vormoderne angehört und das seit dem fortgeschrittenen 18. Jahrhundert, dann verstärkt mit der nicht-gegenständlichen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts ad acta gelegt wird. Zuletzt ist aber die Überzeugung gewachsen, dass die "Naturfeindschaft" der Moderne nicht deren einzige Seite ist, dass sie sich in manchen Zügen ausgesprochen naturaffin gibt oder dass sich doch dem autonom-konstruktiven Zugriff ein solcher der Naturnachfolge beigesellt. [1] Wenn zuletzt etwa ein ganzes Graduiertenkolleg sich dem Motto der Mimesis verschreibt und dieses ausdrücklich auch in der Moderne verfolgt [2], dann dürfte dies ein Zeichen dafür sein. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Schwenk auch etwas mit dem gewachsenen Umweltbewusstsein der ökologischen Gegenwart zu tun hat.
Linn Burchert setzt mit ihrer quellenmäßig ausgesprochen umfangreich unterfütterten Studie zur Abstraktion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hier an. Im Bewusstsein der Problematik des Begriffs definiert sie das abstrakte Bild dieser Couleur (und etwa im Unterschied zu Mondrians Konzeption) als "Lebensraum", der sich im äußersten Fall in den Umraum öffnet und Betrachterin und Betrachter bergend in sich einschließt. Der nach dem in dieser Studie thematisierten Zeitraum akut werdende "Ausstieg aus dem Bild" ist damit originell hergeleitet, und überhaupt hat man den Eindruck, dass in dem Buch auch eine weitgreifende Vorgeschichte zeitgenössischer Öko-Kunst geliefert wird. Wichtig in dieser Konzeption ist das Verständnis eines wirkmächtigen Bildes, das in seiner Wahrnehmung eine fast schon medizinisch-therapeutische Ausstrahlung entwickelt und die Betrachterinnen und Betrachter aus den Verwerfungen des entfremdeten Lebens der Moderne zurückführt in eine Harmonie, deren Herstellung sich das abstrakte Bild an vielen Stellen als zentrale Aufgabe stellt. Bei Paul Klee mündet das im Begriff des Kunstwerks als "villeggiatura", bei Delaunay gleicht es einem Sonnenbad, Rothko spricht von einem Lebensatem, der sich auf den Umraum überträgt und seine heilsame Wirkung entfaltet. In allen Fällen dreht sich die Reflexion um eine zum Licht drängende Farbe, die als reine Energie verstanden wird und zur Energetisierung der Heilsuchenden beiträgt. Neben den bekannten Künstlernamen werden einige heute weitgehend unbekannte eingeführt, die vielfach im Umkreis des Bauhauses tätig waren, Max Burchartz etwa, Gertrud Grunow, Nikolaus Braun oder Otto Nebel. Die Autonomie des Bildes scheint bei allen diesen Vertreterinnen und Vertretern im Sinne der Avantgarde unterlaufen, welche die Kunst ins Leben zurückführen wollte. Das Werk durfte dafür die Naturwerte nicht etwa nur repräsentieren, sondern es musste sie zur Steigerung der Wirkmächtigkeit verkörpern - eine Vorstellung, die dann auch die Grenzen der Mimesiskritik offenbart. Für Burchert spielen hier theoretische Referenzrahmen immer wieder eine Rolle, die mit den Ideen der Einfühlungstheorie, des Monismus, der Psychophysik und der Lebensreform bezeichnet sind und die vielfach bei Goethe vorgeprägt waren. Mit der Esoterik vor allem theosophischer Provenienz identifiziert sie eine für die meisten der von ihr betrachteten Künstlerinnen und Künstler relevante Denkrichtung, die sich bei allen diesen Einflussfaktoren bedient. In ihr verkörpert sich ein Drang, im Wege der Immaterialisierung eine Spiritualisierung zu erreichen, in der religiöse Ursprünge dieser Gedankenwelt aufscheinen.
Die Studie Burcherts glänzt nicht nur in den vielfältigen theoretischen Herleitungen, sondern auch in einer Reihe von einfühlsamen und gekonnten Bildanalysen, wobei diese sich meistens auf eine Farbigkeit beziehen, die im Druck nicht durchgängig realisiert wird. Auffällig ist Burcherts Kritik an Worringers Festlegung der Abstraktion auf eine Rolle, die der Einfühlung polar entgegensteht. Sie ist nachvollziehbar, weil damit ihrer grundlegenden These widersprochen wäre. Hier hätte ihr Jutta Müller-Tamms Studie zu "Abstraktion als Einfühlung" geholfen, in der die Berliner Germanistin diese Kritik mit dem Hinweis vorgeprägt hat, dass Abstraktion selbst schon als eine - nunmehr tendenziell immaterialisierte - Einfühlungskonkretion zu verstehen ist. [3]
Anmerkungen:
[1] Hans Robert Jauss: Ursprünge der Naturfeindschaft in der Ästhetik der Moderne, in: Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, hgg. von Heinz-Dieter Weber u.a., 207-225
[2] Das Programm hier: https://www.mimesis-doc.uni-muenchen.de/program/research_program_mimesis.pdf
[3] Jutta Müller Tamm: Abstraktion als Einfühlung: Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg/Brsg. 2005.
Hubertus Kohle