Aneta Heinrich: Vereine und staatsbürgerliche Emanzipation. Das Vereinswesen im hinterpommerschen Regierungsbezirk Köslin in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Geist & Wissen; 37), Kiel: Verlag Ludwig 2020, 336 S., ISBN 978-3-86935-377-7, EUR 48,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Uta Motschmann (Hg.): Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786-1815, Berlin: De Gruyter 2015
Peter Haslinger / Heidi Hein-Kircher / Rudolf Jaworski (Hgg.): Heimstätten der Nation. Ostmitteleuropäische Vereins- und Gesellschaftshäuser im transnationalen Vergleich, Marburg: Herder-Institut 2013
Aneta Heinrich, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum w Koszalinie (Museum in Köslin), liefert zunächst mit einer Begriffsbestimmung zur Entwicklungsgeschichte der politischen Emanzipation eine solide methodologische Basis für ihre Untersuchung. In der regionalgeschichtlichen Arbeit wird ein Begriff der staatsbürgerlichen Emanzipation zugrunde gelegt, der als Befreiung von staatlicher Bevormundung und korporativem Zwang sowie als Streben nach mehr politischer Partizipation zu verstehen ist. Sodann werden Herausbildung und Entwicklung des Vereinswesens als ein Subprozess der europäischen Modernisierung begriffen. Diese methodische Option zugunsten sozialer Prozesse erlaubt es, die Quellen in den hermeneutischen Kontext der "defensiven Modernisierung" (Hans-Ulrich Wehler) in Preußen zu stellen und zu erschließen. Diese Formel beschreibt die Reformbemühungen des preußischen Staates, die mit der Absicht vorgenommen wurden, einer Revolution von unten zuvorzukommen.
Die Entwicklung des Vereinswesens im Regierungsbezirk Köslin weicht von den sonst üblichen Periodisierungen in Europa und den deutschen Ländern erheblich ab, weil Hinterpommern ein typisch agrarisches Gebiet war, geprägt durch die Konzentration des Landbesitzes in der Hand von Großgrundbesitzern. Das Fehlen von wirtschaftlich florierenden Städten mit aktivem Bürgertum wie auch von bedeutenden wissenschaftlichen und Kulturinstitutionen führte dazu, dass die politische und gesellschaftliche Dominanz der adeligen Großgrundbesitzer bis zum Anfang des 19. Jahrhundert noch weitgehend aus der starken Ständetradition und der privilegierten Stellung im absolutistischen Staat bestimmt wurde. Im Untersuchungszeitraum überschritt sodann der Verein als Medium der Emanzipation die Grenzen des Privaten und wurde zum Faktor der Öffentlichkeit, der wesentlich zum Massencharakter der Revolution von 1848 beitrug. Im Zuge der Revolution traten die Vereine zunehmend als Institutionen zur Artikulation des staatsbürgerlichen Willens auf.
Das moderne Vereinswesen in Hinterpommern bzw. seine Vorreiter werden für den genannten Zeitraum mit vorliegendem Band erstmals zusammenfassend analysiert. Dabei wertet die Verfasserin in ihrem ersten Kapitel Sekundärliteratur über das historische Vereinswesen aus, die bislang von der Annahme einer klaren, durch ausschließende Merkmale gesicherten Trennung zwischen der Korporation als vormoderner und der Assoziation als moderner Institution ausging. Dass diese Trennung gar nicht so eindeutig ist, veranschaulicht Heinrich am Beispiel des Ineinandergreifens von korporativen und assoziativen Elementen des Kolberger Beerdigungsvereins. Sodann folgt ein historischer Exkurs über den korporativen Charakter der mittelalterlichen Zunft, weil diese in der modernen Vereinsforschung als klassische Form der Korporation gilt, welche die für die Ständegesellschaft typische Wertehierarchie und deren Lebenskonzept verkörpert und tradiert. Anschließend liefert die Verfasserin einen kursorischen Überblick zur Entwicklung des Vereinswesens im Untersuchungszeitraum mit einer Akzentuierung seines politischen Potenzials im Allgemeinen sowie im Sinne der staatsbürgerlichen Emanzipation im Besonderen. Das zweite Kapitel verdeutlicht die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Hinterpommern von 1637 bis 1815.
Die Folgekapitel drei bis fünf differenzieren die hinterpommersche Vereinsgeschichte in zunächst "Kulturelle und wissenschaftliche Vereine" wie Gelehrte Gesellschaften in Hinterpommern, Freimaurerlogen oder Lesevereinigungen, sodann in "Landwirtschaftliche Vereine" sowie schließlich in "Wohlfahrts- und Selbsthilfevereine" am Beispiel des Vereins zur Besserung verwahrloster Kinder, der Vereinigungen zur Verschönerung der Promenaden und Förderung von Badeanstalten oder eines Männer-Vereins für die Durchführung von Abwehrmaßnahmen gegen die Choleraseuche. Letzterer war im Zuge der Cholera-Epidemie von 1831 in Preußen auf Veranlassung der Kommunalbehörde in Kolberg gegründet worden. Das sechste Kapitel behandelt die politischen Aktivitäten von hinter-pommerschen Vereinen zur Zeit der Revolution von 1848. Wenngleich die liberalen und demokratischen Bewegungen mit ihren fortschrittlichen Forderungen angesichts der vor-herrschenden gesellschaftspolitischen Bedingungen im Regierungsbezirk Köslin keine dominierende Rolle spielten, so deutete die durchaus rege Vereinsaktivität doch auf eine neue Entwicklungsphase des staatsbürgerlichen Bewusstseins und einen gewissen Grad der politischen Emanzipation hin, wie die Verfasserin bilanziert (303).
In einem Fazit bündelt Heinrich ihre Untersuchungsergebnisse und gelangt in Übereinstimmung mit Dirk Mellies zu dem Schluss (311), dass sich angesichts der geringen Bevölkerungsdichte im Regierungsbezirk Köslin im 19. Jahrhundert und seines agrarischen Charakters ein beachtenswertes Aufkommen von Vereinsaktivitäten als Ausdruck und zugleich Medium der staatsbürgerlichen Emanzipation nachweisen lässt. Im Gegensatz zur typischen Periodisierung des deutschen und europäischen Vereinswesens kann vom "goldenen Zeitalter" des hinterpommerschen Vereinswesens erst in den 1870er und 1880er Jahren gesprochen werden, was mit dem Fortschritt des gesamten Modernisierungsprozesses und der durch die Reichsgründung erfolgten Integration in den nationalen Kommunikationsraum der Region zusammenhängt.
Insgesamt ist es das Verdienst der Verfasserin, aus einer komplizierten und kaum überschaubaren Fülle an Dokumenten der Archive in Koszalin und Szczecin (Stettin) eine gut lesbare, akribisch genaue und in jeder Weise profunde Studie sowohl zur Geschichte Hinterpommerns als auch zum Vereinswesen dieser Region geliefert zu haben.
Andreas Pehnke