Elke Seefried / Ernst W. Becker / Frank Bajohr u.a. (Hgg.): Liberalismus und Nationalsozialismus. Eine Beziehungsgeschichte (= Zeithistorische Impulse; Bd. 15), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 458 S., ISBN 978-3-515-12747-9, EUR 74,00
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Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus zusammen mit dem Institut für Zeitgeschichte durchgeführt hat. Die Tagung knüpfte an frühere Kolloquien zum Liberalismus im 20. Jahrhundert und zum Neoliberalismus am Ende des Jahrhunderts an. Den Liberalismus mit dem Nationalsozialismus in Beziehung zu bringen, ist ein ebenso schwieriges wie anregendes Unterfangen. Der Sammelband dürfte einige Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber auch Kritik hervorrufen. Gegliedert in vier Sektionen zu den Traditionslinien, zur gegenseitigen Wahrnehmung und Adaption, den Handlungsspielräumen einzelner Personen, Firmen und Institutionen sowie den Exilerfahrungen zweier Publizisten aus dem liberalen Spektrum der Weimarer Republik, wird ein großer Bogen geschlagen bis hin zu einem Ausblick auf die Zeit nach 1945.
Die Einleitung legt den Ansatz dar, auf den das Konzept der Tagung und - grosso modo - die Beiträge des Bandes ausgerichtet sind. Den Ausgangspunkt bildet der moderne Soziale Liberalismus von Friedrich Naumann, der vor dem Ersten Weltkrieg ein glühender Nationalist und Befürworter des deutschen Imperialismus war, zugleich ein Mann des entschiedenen Freiheitsdenkens für "Volk" und "Bürger". Naumanns Fortschrittsverständnis war liberal und sozial, es war sowohl auf die Einzelperson als auch auf den Zusammenhalt der Gesellschaft bezogen, und es war evangelisch grundiert. Damit entstand das "bildungsbürgerlich-protestantische Netzwerk" (12), das in verschiedene Richtungen hin offen war - in eine linksliberale, sozial und emanzipatorisch ausgerichtete Linie, eine nationale, wirtschaftsbezogene Linie und eine sozialkulturelle, in der sich die Zeittrends eines jeden Jahrzehnts abbilden konnten. Eine klare Definition von Liberalismus wird vermieden, denn in diesem Band soll es in Anlehnung an Michael Freeden um die Vielfalt von Liberalismen gehen. Sie werden verstanden als kontextabhängige "Konstellationen von Leitbegriffen wie Individualität, Recht, Freiheit, Fortschritt, Rechtsstaat" (24). Der Ansatz erweist seine Tragfähigkeit immer dann, wenn man diese Leitbegriffe als essentials liberaler Weltanschauung ernst nimmt: Individualität und Freiheit münden im Recht auf Selbstbestimmung, die "Einzelperson" ist nur dann im Liberalismus aufgehoben, wenn sie selbstbestimmt handeln kann, und dieses Handeln muss rechtsstaatlich gewährleistet sein.
Im Umgang mit dem Nationalsozialismus kann das alles natürlich nicht der Fall sein, so dass es in diesem Band letztlich um die Suche nach abweichenden Verhaltensmustern bei vermeintlich liberalen Persönlichkeiten oder um Schrumpfformen im Verständnis von Liberalismus geht, die sich bei deutschen Liberalen immer wieder finden lassen. Im Kern geht es denn auch mehr um die Beziehungsgeschichte von Bürgertum und Nationalsozialismus, sobald man die große Mehrheit der deutschnationalen oder völkischen Bürger beiseitelässt und auf die Minderheit derjenigen schaut, die zu den liberalen Parteien oder zu liberalen Netzwerken gehörten. In Deutschland hat das Bürgertum nach der Reichsgründung im "semiabsolutistischen Militärstaat Bismarcks" (Wehler) keine gestaltende Kraft im Sinne des westeuropäischen Liberalismus entfalten können. Das Bürgertum war national, einige wählten liberale Parteien, und nur ganz wenige vertraten offen die liberale Position von Freiheit und individueller Selbstbestimmung als Norm der Staatsbürgerschaft. In der Weimarer Republik gehörten diese Liberalen zur DDP. Sie endete als "Deutsche Staatspartei" nach 1930 mit einem Anteil von etwa einem Prozent der Wählerstimmen: das deutsche Bürgertum war nicht liberal. So stellt sich die Frage, ob die "Beziehungsgeschichte", um die es hier geht, nicht eher das Bürgertum und den Nationalsozialismus betrifft und nicht so sehr den Liberalismus.
Der offene, sozialkulturell dehnbare Liberalismusbegriff, der hier angewendet wird, lässt die Unvereinbarkeit von selbstbestimmtem Freiheitsdenken und volksgemeinschaftlicher Willkürherrschaft verschwimmen, so dass die Spezifika des NS-Systems und die eines in die europäische Tradition eingebundenen Liberalismus nicht deutlich sichtbar werden können. Genau dieses Defizit aber gibt ein präzises Abbild der deutschen Gesellschaft vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Zahlreiche Bürger, die bis 1933 liberal gewählt hatten, national dachten und die völkische Rhetorik billigten, kamen dem Nationalsozialismus sehr schnell und ohne viel Umstände nahe.
Die allesamt sehr lesenswerten Beiträge behandeln im ersten Abschnitt den liberalen Imperialismus und das völkische Ordnungsdenken (Ulrike Jureit), den europäischen Liberalismus nach dem Ersten Weltkrieg (Jörn Leonhard) und, als Einzelbeispiel, Wilhelm Stapel als Vertreter geschmeidiger Anverwandlung völkischer Denkmuster vor liberalem Hintergrund (Thomas Vordermayer). Die gegenseitigen Wahrnehmungen und programmatischen Ambivalenzen im zweiten Abschnitt gelten der Interaktion von Personen, die teils liberal, teils NS-nah handelten, darüber dem Nationalsozialismus immer näher kamen und sich als das erwiesen, was sie von Hause aus waren: als Bürger, weit weniger aber als Liberale. Frank Bajohr, behandelt die nationalsozialistische Sicht auf den Liberalismus "zwischen Nichtbeachtung und Adaption". Er verweist auf Hitlers Rhetorik zu "der einzelnen Person" und lässt hier deutlich werden, dass dies mit dem liberalen Individualismus rein gar nichts zu tun hatte, weil Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit keine Rolle spielten. Eric Kurlander und Christopher König untersuchen die Problematik der Adaption mit Blick auf Frauenbewegung und Kulturprotestantismus. Der dritte Abschnitt gilt Einzelfallstudien über Personen und Institutionen, die zwischen Anpassung, Berechnung und Widerstand oszillierten. Beate Meyer porträtiert den in verschiedenen Farben schillernden Bürokraten Werner Stephan, Joachim Scholtyseck skizziert liberale Unternehmer in ihrer Haltung zu "Arisierungen", Philipp Müller beschreibt die Internationale Handelskammer in den 1930er Jahren als Fallbeispiel für die "Transformation des Liberalismus". Manuel Limbach zeigt den Weg der beiden bayerischen Liberalen Eduard Hamm und Otto Geßler in den Widerstand, Iris Nachum analysiert die schwierige Situation bei den Sudetendeutschen in der Zwischenkriegszeit, die mehrheitlich der NS-nahen Henleinpartei anhingen, auch wenn sie sich zuvor als Liberale verstanden hatten. Der vierte Abschnitt gilt den transatlantischen Perspektiven von Liberalen im Exil. Die Fallbeispiele über Ernst Jäckh (Helke Rausch) und Gustav Stolper (Ernst Wolfgang Becker) behandeln zwei Intellektuelle aus der liberalen Szene der Weimarer Republik, die im britisch-amerikanischen Exil nahezu kein Profil gewinnen konnten. Das mag an beider Persönlichkeit gelegen haben, aber auch daran, dass sie im Vergleich zu den sozialistischen Emigranten aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa keinen Zugang zum linken Diskurs im Umfeld des New Deal fanden.
Kristian Buchna skizziert den Ausblick auf die Zeit nach 1945. Er zeigt, in wie hohem Maß die bürgerlichen Protagonisten in der FDP gar keine Bindung an liberale Wertvorstellungen aufwiesen, sondern dem nationalsozialistischen Elitedenken anhingen. Bis in die 1960er Jahre war die FDP zumindest in NRW und Niedersachsen eine Sammlungsbewegung von hochrangigem SS-Personal. Gerade vor diesem Hintergrund lohnt die Fragestellung nach der Beziehungsgeschichte von Liberalismus und Nationalsozialismus, die dieses wichtige Buch auswirft. Fast will es scheinen, als sei der Band von der Erfahrung der FDP als rechter, postnazistischer Sammlungspartei her konzipiert worden.
Anselm Doering-Manteuffel