Rezension über:

Guido Messling / Kerstin Richter (Hgg.): Cranach. Die Anfänge in Wien, München: Hirmer 2022, 163 S., ISBN 978-3-7774-3924-2, EUR 29,90
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Rezension von:
Michael Hofbauer
Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Michael Hofbauer: Rezension von: Guido Messling / Kerstin Richter (Hgg.): Cranach. Die Anfänge in Wien, München: Hirmer 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/06/36934.html


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Guido Messling / Kerstin Richter (Hgg.): Cranach. Die Anfänge in Wien

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2010 erfuhr ich während der technologischen Untersuchung der Bildnisse Cuspinian von der Idee einer Ausstellung zum frühen Cranach. 12 Jahre später wird dieses Desiderat der Cranach-Forschung als "weltweit erste" Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien gemeinsam mit der Sammlung Oskar Reinhart präsentiert, "die damit einen umfassenden Überblick über das frühe Schaffen dieses Ausnahmekünstlers bietet". Zusätzlich soll in Winterthur der "Schwerpunkt auf die Porträttradition" gelegt werden. Ein ambitioniertes Vorhaben, welches im Katalog seine Zusammenfassung finden sollte. 

In Erwartung der in 12 Jahren generierten Forschungsarbeit blättert die Käuferin des von Guido Messling und Kerstin Richter herausgegebenen Werks in dem 168 Seiten-Band und überfliegt 70 farbige Abbildungen, die in guter Qualität reproduziert sind. Die Kennerin findet die in Wien befindlichen Tafelwerke (Kat. 1, 6, 9, 10, 22) sowie einige Holzschnittblätter (Kat. 2, 3, 22, 23, 24, 25, 26), vermisst jedoch die angekündigten "hochkarätige[n] Leihgaben aus anderen Sammlungen", denn das einzige Tafelwerk mit Signatur des Jahres 1504 (Kat. 28) fehlt, bzw. ist durch eine Kopie der KHM-Bestände ersetzt. Ebenfalls nicht ausgestellt und damit dem direkten Vergleich vorenthalten sind die Ehegattenbildnisse aus Nürnberg, die unter Kat.-Nrn. 15 & 16 beschrieben sind. Der Rest der ausgestellten Tafelwerke beschränkt sich auf vermeintliche Kopien nach von Cranach geschaffenen Originalen (Kat. 17, 18) oder zugeschriebene Werke, die allerdings umstritten sind (Kat. 11) oder anderenorts mit ausführlicher Begründung als Werke Cranachs abgeschrieben wurden (Kat. 19) (https://doi.org/10.11588/arthistoricum.722.c12361). Der Rest besteht aus nicht mit Cranach in Zusammenhang stehenden Werken (Kat. 29, 30). Bei den Zeichnungen besteht ein ähnliches Missverhältnis zwischen als gesichert geltenden Werken und auch von der neueren Forschung infrage gestellten Werken. Lediglich eine Zeichnung kann als Referenzwerk gelten (Kat. 27). Dieses datierte und signierte Schlüsselwerk wird jedoch lediglich in Winterthur gezeigt. Es muss deshalb die Frage erlaubt sein, weshalb von den 30 Katalognummern in Wien nur 17, in Winterthur nur 16 Werke zu sehen sind, wobei vier Werke (Kat. 14, 15, 16, 26) überhaupt nicht ausgestellt sind. Der angekündigte "umfassende Überblick über das frühe Schaffen dieses Ausnahmekünstlers" ist damit nicht gegeben. Mehr noch: Werke wie z.B. die Schächer (Kat. 4, 5) werden vom Wiener Kurator zum wiederholten Mal durch Trugschlüsse Cranach zugeschrieben: "[...] lässt sich auch durch die für ihn [Cranach] typischen kleinwelligen Konturen sowie durch eine Gegenüberstellung mit den vergleichbar vorgewölbten Bauch-und Rückenpartien der Schächer in den beiden großen Kalvarienberg-Holzschnitten oder den gleichartig gebildeten Plattfüßen stützen, die Johannes der Täufer auf der wohl kurz nach 1500 geschaffenen Helldunkelzeichnung in Lille unter dem Gewand hervorlugen lässt." (79) Nicht genug, dass diese Zeichnung ebenfalls nicht ausgestellt ist, besteht über deren Urheberschaft alles andere als Konsens. Sogar Sabine Heiser als Mitautorin des Katalogs bezeichnet sie andernorts als Werk Baldungs. Auch die zitierten Holzschnitte (Kat. 2, 3), von denen einer mit einem für Cranach nicht in Frage kommenden Monogramm versehen ist, können nicht als Vergleichswerke dienen, da sie mit sämtlichen anderen Arbeiten das Schicksal nicht gesicherter Werke teilen (Kat.19 nicht von Cranach). Die hier traditionell als von Cranachs Hand stammend angesehenen Holzschnitte weisen ikonographisch zweifellos auf Cranach hin, ebenso aber auf Baldung und Dürer. Phänomenologisch sind die Schnurrbärte der Reiter und die Flächenschraffuren jedoch ein deutlicher Hinweis auf Johannes Wechtlin, dessen frühes Monogramm Kat. Nr. 3 tragen könnte: Ein "W" mit Kreuz an das links ein "I" sowie rechts ein "N" angehängt wurde. Selbst wenn Messling Recht behalten sollte mit seiner unkritischen Übernahme tradierter Zuschreibungen, entbehrt es doch jedweden wissenschaftlichen Anstands, anderslautende Meinungen als "wenig überzeugend" abzutun (79), ohne diese zu widerlegen, zumindest aber zu zitieren und die entsprechende Quelle zu nennen. Leider muss dies auch für Messlings neu zur Diskussion gestelltes "Erstlingswerk" Cranachs gelten, welches er innerhalb seines Aufsatzes "Die Anfänge Cranachs. Gesichertes und Mutmaßungen" (13-23) präsentiert (20, Abb. 9), denn er ignoriert erneut eine bereits mehrfach veröffentlichte weitere Darstellung eines möglichen Erstlingswerkes, ohne zumindest auf diese hinzuweisen. Auch damit nicht genug, will er aus der Darstellung eines Hundes im Vordergrund einen Verweis auf Cranach generieren und zitiert hierzu einen Holzschnitt (Abb. 10), der nach übereinstimmender Meinung jedoch nicht Cranach, sondern ebenfalls Hans Wechtlin zugeschrieben wird. Dies mit guten Gründen, denn derselbe Hund ist auf mindestens vier weiteren Schnitten Wechtlins nachweisbar (Vgl. z.B. Herzog Anton Ulrich-Museum Inv. AB 3.4/3.6). Messlings Trugschlüsse dürften damit ungewollt belegen, dass alle Cranach zugeschriebenen Holzschnitte um 1500 infrage gestellt werden sollten. Gesichertes, wie es die Überschrift suggeriert, findet sich in seinem Aufsatz nicht, Mutmaßungen hingegen zuhauf. 

Interessante Einblicke in die Situation in Wien um 1500 bietet der Aufsatz von Björn Blauensteiner mit dem Titel "Cranachs Wien. Zum Zunftrecht und künstlerischen Ambiente". (25-33) Insbesondere die Hinweise auf die geltende "Jurisdiktion der Stadt", wonach Cranach als "sog. Störer" im Schutz der "autonomen Universitätsgerichtsbarkeit" gearbeitet haben dürfte, schafft Raum für neue Forschungsansätze (26). Als Übersicht mit dem Titel "Unverwechselbar. Zur Porträttradition bis 1500 in Deutschland und den Niederlanden" (35 - 43) referiert Kerstin Richter über "das Porträt als eigene Gattung" und spannt darin einen Bogen von der niederländischen Bildtradition über Dürer zu Cranach, dessen innovative Kraft sie in der erstmaligen Integration der Personen "direkt in die Landschaft" sieht. Katja Baumhoff greift als stellvertretende Direktorin des Museums Reinhart erwartungsgemäß die Ausführungen des vorausgehenden Essays auf und sieht in der Bedeutung der Landschaft auf den Cuspinian-Porträts den direkten "Schlüssel zu Cranachs Naturverständnis - und dem seines Umkreises". (45) Unter dem Titel "Im Grünen. Das Naturbild im Wiener Humanismus" (45-51) kommt sie zu dem Schluss, dass das dem Humanismus geschuldete "aufkeimende Interesse an empirischer Naturbeobachtung" (47) als Ergänzung zu der "pantheistischen Idee: Natur ist Göttlichkeit" (49) zu verstehen sei, dargestellte Tiere und Pflanzen "aber nicht auf naturwissenschaftliche Exaktheit" zielen (48). 

Über "Johannes Winterburger und Lucas Cranach" macht sich Andreas Fingernagel Gedanken (53-59). Winterburger schreibt er eine "Monopolstellung" zu und behandelt dessen liturgische Druckwerke, wobei unter anderem das Missale Pataviense ausführlich beschrieben wird (54). Freilich folgt er dem Topos der tradierten Zuschreibung der darin befindlichen Holzschnitte an Cranach (Kat. 2, 3, 25), verweist aber ebenso auf die Biografen Winterburgers, die 1913 die Schnitte "noch eher zögerlich, Lucas Cranach zuordnen". (56) Bemerkenswert ist die Aussage, dass "mit dem Engagement Cranachs [...] der Wiener Drucker einer seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert gebräuchlichen Praxis [folgt], namhafte Künstler [...] zu engagieren" (56), womit sich die Frage stellt, mit welchen Werken Cranach sich vor seinem Engagement einen Namen gemacht haben könnte? Diese Frage scheint Sabine Heiser mit dem letzten Aufsatz "Zur Genese seines Frühwerks. Lucas Cranach in Wien um 1500" (61-71) indirekt zu beantworten, indem sie schreibt: "In Wien trat Cranach [...] unter bemerkenswerten Umständen als Maler und Graphiker an das Licht der Öffentlichkeit", was sie als "Beginn einer Karriere" konkretisiert (62). Zusammenfassend schildert sie die Anfänge "moderner Kunstwissenschaft" (63) und resümiert zu Recht: "Seither ist die Existenz eines Frühwerks von Cranach, das dieser vor Beginn seines Hofmaleramtes in Wittenberg geschaffen hat, nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt worden." Mit dem Hinweis auf "die Konstrukteure dieses Frühwerks" zeigt sie den Kern eines Problems auf, das auch die aktuelle Ausstellung als roter Faden durchzieht. Schade, dass ihr kritischer Ansatz in die unkritische Zustimmung der Kuratoren an die "Konstrukteure des Frühwerks" mündet, was neue Erkenntnisse zu Demselben verhindern hilft. Neben den Aufsatzautoren bearbeiteten Claudia Koch (9,10 mit Björn Blauensteiner) und Erwin Pokorny (7, nicht ausgestellt, 8, nur Wien, 14, nicht ausgestellt) Katalogeinträge. Besonders der Eintrag zu den Wiener Filocalus-Zeichnungen ist nicht nur deshalb interessant, weil diese gar nicht ausgestellt sind, sondern weil Pokorny den Mut hat, die fragwürdige Zuschreibung an Cranach innerhalb eines umfangreichen Katalogeintrags zu bezweifeln (88) und entgegen vorherrschender Meinung zudem später zu datieren. Weshalb die Herausgeber die nur bei unkritischer Betrachtung als "Cranach" titulierbaren Blätter dennoch als "Lucas Cranach d.Ä." publizieren, erschließt sich nur der kritischen Leserin. So muss denn das vorliegende Projekt wohl mit einem Zitat von Guido Messing selbst bewertet werden: "Leider kann man nur zu dem Schluss kommen, dass diese Veröffentlichung ... weder seine Methodik noch seine Forschungsergebnisse neue Erkenntnisse für Cranach-Studenten [bietet]." [1]


Anmerkung:

[1] Guido Messling / Anna Schultz: Rezension zu: Michael Hofbauer: Cranach. Die Zeichnungen, in: Master Drawings, Vol. 51, Nr. 2, (2013), 229-242. https://www.jstor.org/stable/i40149609

Michael Hofbauer