Stephan Bruhn: Reformer als Wertegemeinschaften. Zur diskursiven Formierung einer sozialen Gruppe im spätangelsächsischen England (ca. 850-1050) (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 68), Ostfildern: Thorbecke 2022, 607 S., ISBN 978-3-7995-4389-7, EUR 75,00
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Die Doktorarbeit Stephan Bruhns bietet eine vergleichende Untersuchung zweier Reformkontexte des spätangelsächsischen Englands: zum einen die alfredianischen Reformen des späten 9. Jahrhunderts, zum anderen die sogenannten "benediktinischen" Reformen des 10. und 11. Jahrhunderts. Die vergleichende Perspektive wird durch die Anwendung eines innovativen Interpretationsmodells ermöglicht, das in der methodischen Einleitung (17-70) ausführlich geschildert und begründet wird. Ausgehend von der wissenschaftstheoretischen Perspektive der "Kulturgeschichte des Sozialen" sowie von sozialkonstruktivistischen Ansätzen konzentriert sich der Verfasser auf die diskursive Bildung und Stabilisierung sozialer Gruppen, die nach modernem Verständnis als Reformergemeinschaften gelten. Da sich in den spätangelsächsischen Quellen keine Entsprechungen zu den in der Forschung geläufigen Begriffen 'Reform' und 'Reformer' finden lassen, erweist sich das Erschließungspotential der historischen Diskursanalyse für die Untersuchung als entscheidend. Diese ermöglicht es, die "Divergenz zwischen zeitgenössischem und analytischem Reden über soziale Gruppen" (39) methodisch zu überbrücken, indem sie nicht nur konkrete Begrifflichkeiten, sondern auch implizite Bezüge und metaphorische Ausdrucksweisen in Betracht zieht. Grundlegend ist zudem die Auffassung der Reform als "übergeordnete Diskursformation, die sich durch die Bündelung und Intensivierung von Werte- und Normendiskursen auszeichnet" (54). In Anlehnung an Hans Joas [1] bilden die affirmativen Werte die Ausganspunkte für die Analyse der inkludierenden Prozesse der Gruppenbildung nach innen, während die restriktiven Normen im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Vergemeinschaftung nach außen gedeutet werden. Sorgfältig begründet ist die Auswahl der Quellenbasis: Die lateinischen Prosaviten bieten nicht nur aufschlussreiche Einblicke in die Selbstwahrnehmung der Reformer, in deren Milieu sie entstanden, sondern gewährleisten auch auf der diachronischen Ebenen die "Gleichförmigkeit des Gesagten" (44). [2]
Nach der soliden methodischen Einleitung gliedert sich die eigentliche Untersuchung in zwei Hauptteile, die den beiden Beispielfällen entsprechen. Um die Vergleichbarkeit der Befunde zu gewährleisten, werden die untersuchten Werte- und Normendiskurse in beiden Blöcken in elf Kategorien eingeordnet: Gehorsam, Gerechtigkeit, Bußfertigkeit, Keuschheit, Frömmigkeit, Soziabilität, Demut, Freigiebigkeit, Gnade, Agonalität und Produktivität. Auf diese katalogartige Darstellung folgt in einem separaten Unterkapitel eine gruppenorientierte Auswertung.
Im zweiten Kapitel (71-290) werden die Reformen König Alfreds des Großen von Wessex (†899) anhand des Werkes De rebus gestis Ælfredi des walisischen Hofgelehrten Asser untersucht. Während sich die Forschung bisher ausschließlich auf die legitimatorische und fürstenspiegelartige Dimension des Textes fokussierte, ergänzt Bruhn die früheren Erklärungsansätze um eine weitere Komponente, indem er Aussers Werk überzeugend auch als "reformorientierte Selbstvergewisserung für den Hofkreis" (97) erläutert. Aus der systematischen Analyse der Werte- und Normendiskurse ergibt sich die zentrale Bedeutung der vita mixta, welche sowohl die Kontemplation als auch die aktive Teilnahme an der weltlichen Ordnung umfasst. Im Hinblick auf die wertorientierte Abgrenzung der Reformgruppe betont der Verfasser neben der Intensivierung von verwandtschaftlichen Beziehungen die Inklusion von Gelehrten fremder Herkunft (wie Asser selbst), die zur Verwirklichung der königlichen Bildungsideale berufen wurde. Darüber hinaus hebt Bruhn hervor, dass neben dem König und seinen Herrschaftsträgern auch klerikale Akteure maßgeblich zum königlichen Reformprogramm beitrugen. Parallel wirkten die auf Normenbrüchen basierten Exklusionsmechanismen auf unterschiedlichen Ebenen, vom dynastischen Kontext bis zur gesamten christianitas, aus der die mit den pagani verbündeten Angelsachsen diskursiv ausgeschlossen werden.
Im dritten Kapitel (291-499) werden sieben Heiligenviten untersucht, die in England zwischen dem ausgehenden 10. und dem beginnenden 11. Jahrhundert verfasst wurden: Lantfreds Translatio et miracula Sancti Swithuni, die Passio Sancti Eadmundi Abbos von Fleury, die Vita Sancti Æthelwoldi Wulfstans Cantor, die Vita sancti Dunstani des sogenannten B., Adelards Lectiones in depositione Sancti Dunstani und zwei Byrhtferth von Ramsey zugeschriebene Werke, die Vita Sancti Oswaldi und die Vita Sancti Ecgwini. Neben der in der Forschung konsolidierten Periodisierung stellt der Verfasser auch die "benediktinische" Kennzeichnung der spätangelsächsischen Reformbewegung infrage. Die Wiederbelebung des klösterlichen Lebens bildete zwar ein Hauptanliegen der Reformbestrebungen, die vita activa stand jedoch in den Wertendiskursen häufig mit der vita contemplativa in engem Zusammenhang. Die Verflechtung von Laikalen und Klerikalen spiegelt sich deutlich auch in der diskursiven Gruppenbildung wider, welche nicht nur Mönche, Äbte und Mönchbischöfe, sondern auch Könige und weltliche Herrschaftsträger einschließt.
Beschlossen wird die Studie durch sechs Plädoyers (501-554), die insgesamt einen sehr aufschlussreichen Ausblick bilden: Sie beschränken sich nicht auf eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse, sondern bieten solide Ausgangspunkte für breitere Reflexionen zu den übergeordneten Themen, die den Bezugsrahmen der Studie darstellen. Besonders erwähnenswert ist die Relativierung des Gegensatzes zwischen laikaler und klerikaler Kultur in frühmittelalterlichen Kontexten sowie Forderung nach einer neuen Gesamtdeutung des Verhältnisses zwischen spätangelsächsischem England und karolingischem Herrschafts- und Kulturraum, welche zur Überwindung des Zentrum-Peripherie-Paradigmas führen sollte.
Insgesamt erweist sich die Studie in vielerlei Hinsicht als sehr ertragreich. In erster Linie leistet die sehr akribisch durchgeführte Quellenkritik einen erheblichen Beitrag zur tieferen Erschließung der Alfredsvita Assers, mit besonderem Blick auf Struktur und Funktionen des Werkes sowie auf dessen Verhältnis zur altenglischen Textproduktion und zur karolingischen Herrscherbiographik. Ein wichtiges Novum bildet darüber hinaus die intertextuelle Perspektivierung der sieben Heiligenviten, aufgrund deren inhaltlicher und sprachlich-stilistischer Ähnlichkeiten sich gemeinsame Wissensbestände innerhalb der Reformgruppe der "zweiten Generation" feststellen lassen. Auch im spezifischen Untersuchungsbereich sind die Ergebnisse sehr relevant. Zwar lassen sich nicht alle in den analytischen Teilen untersuchten Wertvorstellungen als Reformauffassungen im engeren Sinne deuten. Doch ermöglicht es die Verwendung von festen Wertkategorien, die sich am modernen Erkenntnisinteresse orientieren, wesentliche Kontinuitätslinien zwischen den beiden erforschten Reformkontexten herauszuarbeiten. Das Erkenntnispotenzial des diskursanalytischen Ansatzes zeigt sich bei der reformbezogenen Deutung von Traumvisionen deutlich, die in der früheren Forschung wegen ihres vermeintlich "astorischen" Charakters nicht näher untersucht wurden. Besonders erwünscht ist daher die Anwendung der historischen Diskursanalyse auf die Erforschung weiterer Reformkontexte, die durch komplexe wert- und normorientierte Inklusions- bzw. Exklusionsmechanismen gekennzeichnet wurden - wie insbesondere die Kirchenreform(en) in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhundert.
Anmerkungen:
[1] Hans Joas: Die Kulturellen Werte Europas. Eine Einleitung, in: Die kulturellen Werte Europas, hg. von dems. / Klaus Wiegandt, Frankfurt a. M. 42006, 11-39.
[2] Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M. / New York 22009 (Campus Historische Einführungen; 4), 102.
Francesco Massetti