Rezension über:

Carl Alexander Krethlow: Bauern - Schulzen - Gutsbesitzer. Mobilität in der ländlichen Bevölkerung Vorpommerns 1570-1970 (= Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag. Reihe: Geschichtswissenschaft; Bd. 50), Baden-Baden: NOMOS 2021, 637 S., ISBN 978-3-8288-4619-7, EUR 118,00
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Rezension von:
Martin Meier
Warin
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Martin Meier: Rezension von: Carl Alexander Krethlow: Bauern - Schulzen - Gutsbesitzer. Mobilität in der ländlichen Bevölkerung Vorpommerns 1570-1970, Baden-Baden: NOMOS 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/09/36269.html


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Carl Alexander Krethlow: Bauern - Schulzen - Gutsbesitzer

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Der Schweizer Militärhistoriker Carl Alexander Krethlow legt mit seiner Studie eine sozialgeschichtlich interessante Arbeit vor, die den Anspruch erhebt, Fragen der Mobilität der pommerschen Landbevölkerung über einen Zeitraum von 400 Jahren umfassend zu untersuchen. Sie ist das Ergebnis der Bemühungen eines habilitierten Historikers, die Geschichte seiner Familie so in den historischen Kontext einzubetten, dass sozial-, kultur- und politikhistorische Phänomene an konkreten Einzelschicksalen erörtert werden. Dieser mikrohistorische Zugriff, gestützt auf Akten vornehmlich des Greifswalder Universitätsarchivs, bietet wertvolle Einblicke in den Alltag der pommerschen Landbevölkerung im 18. und 19. Jahrhundert. Eher randständig wird das 20. Jahrhundert betrachtet, obgleich Krethlow auch hier interessante Einblicke in die Entwicklung seiner Protagonisten zu geben vermag. So findet sich die Schilderung des Lebens Günter Kretlows, der vom überzeugten Jungvolkführer und Hitlerjungen in der jungen Bundesrepublik zur Sozialdemokratie fand, deren marxistische Wurzeln ernst nahm und sich erst spät von der Linken abwandte.

Die Studie zerfällt in drei Kapitel, die sich den Orten Hinrichshagen, Levenhagen und Weitenhagen widmen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie dem pommerschen Amt Eldena zugehörten, das sich wiederum im Besitz der Universität Greifswald befand. Krethlow schildert überaus detailreich das Leben verschiedener Bauernfamilien in diesen Orten, zeigt ihren Kampf um Hof, Heim, Vieh und Pflanzung über drei Jahrhunderte. Er verweist auf Auseinandersetzungen um Pacht und Wiederaufbau im Kriege zerstörter Höfe. Den Alltag der Bauern beschreibend, geht er auch auf Fragen des Eheschließens sowie auf innerfamiliäre Konflikte und Rivalitäten um Abgaben, Pacht, Grund, Boden und Hausbau ein. So bietet Krethlow Zustandsbeschreibungen der einzelnen Ortschaften, die lokal- und regionalhistorisch von großem Wert sein dürften und die akribisch aus dem vorgefundenen Material erarbeitet wurden.

Ansprechend ist auch die Darstellung unterschiedlicher frühneuzeitlicher Berufswege, etwa wenn im Falle Jacob Dietrich Krethlows der Werdegang eines Zimmermanns auf dem Lande geschildert wird. Dieser zog auf Wanderschaft, zunächst nach Berlin, später in den süddeutschen Raum. Hier zeigt sich die Auflösung der Bindung an die Scholle, die noch eine Generation zuvor, selbst bei besseren ökonomischen Aussichten in der Fremde, nur selten erreicht wurde. Später nimmt die Familiengeschichte gleich der Zeit, die sie beschreibt, Geschwindigkeit auf. Zugleich wird die Politisierung der Gesellschaft deutlich. Hans Moritz Krethlow studierte bis 1919 Jura in Leipzig, wurde DNVP-Mitglied und nach 1945 als Oberstaatsanwalt von der US-Administration eingesetzt. Im Mai 1945 wurde er nach Mühlberg deportiert, ein ehemaliges KZ, das die Sowjets weiter betrieben und dort, so Krethlow, ermordet.

Hans Moritz betreffend, übernimmt der Verfasser dessen Position und Selbstverteidigung nach Kriegsende vorbehaltlos, obgleich andere Unterlagen herangezogen werden könnten. So schreibt er, Krethlow sei zum NS-Mitgliedsantrag, der abgelehnt wurde, mehr oder weniger gezwungen gewesen. Ein Blick in Alexander Zinns 2021 erschienene Studie Von "Staatsfeinden" zu "Überbleibseln der kapitalistischen Ordnung" [1] lassen Zweifel an dieser Auffassung einer gänzlichen Ablehnung des NS-Regimes durch Krethlow zu.

Ob Krethlows Studie dem Anspruch gerecht wird, Mobilität umfassend zu erörtern, mag der Leser entscheiden. Ihm geht es im Grunde um die umfassende Darstellung der eigenen Familienhistorie und in dieser Hinsicht wird der Leser kaum eine ähnlich akribische Arbeit im deutschen Sprachraum finden. Jenen familienhistorischen Charakter zu verschleiern, ist Krethlow bemüht, wird doch an keiner Stelle der Arbeit, mit Ausnahme der letzten kurzen Abschnitte und der Danksagung, erwähnt, dass er Familiengeschichte schreibt. So wählt Krethlow mit Bedacht eine Perspektive, die sich der weiteren Forschung verpflichtet fühlt und ihr Anregungen geben möchte. Andererseits deutet der Autor erst recht spät (134) an, was er eigentlich unter dem Begriff der Mobilität versteht, den er weit fasst. Er wählt hier den Ausdruck "hohe Mobilitätsfrequenz" und meint damit nicht nur Tod und Geburt, sondern "...auch Wiederverheiratung und Stellenwechsel" sowie den "laufenden Wechsel in der personelle[n] Zusammensetzung" der Haushalte. Viel später, das 19. Jahrhundert thematisierend, geht Krethlow dann wieder auf die geographische Mobilität ein, die in der zweiten Hälfte des Säculums insbesondere Binnenwanderung in westliche Richtung gewesen sei (481).

Anlass zur Kritik bietet die Arbeit immer dann, wenn historisch-politische Zusammenhänge erörtert werden; etwa wenn Krethlow im Zusammenhang mit dem Großen Nordischen Krieg behauptet, "bis Mitte April 1716 eroberten dänische, preußische und sächsische Kräfte ganz Schwedisch-Pommern" oder "als 1716 die Kampfhandlungen in Schwedisch-Pommern abklangen". Nun befand sich aber mit der Eroberung Stralsunds Ende Dezember 1715 das ganze Land bereits in den Händen der Nordischen Alliierten und wurde von den Dänen fünf Jahre bis 1721 verwaltet. Diese Dänenzeit findet bei Krethlow keine Erwähnung. Ebenso falsch liegt der Verfasser, wenn er meint, dass an der Belagerung Stralsunds 1715 auch russische Truppen teilgenommen hätten. Freilich berühren derartige Fehler den Kern der Ausführung nicht wesentlich. Der Arbeit hätte in diesem Zusammenhang die umfassendere Rezeption des Forschungsstandes gutgetan. So führt Krethlow an, Theologen hätten zur "Beschleunigung" ihrer Karriere die Witwe ihres Vorgängers geheiratet und unterschlägt hierbei gänzlich die Pfarrwitwenkonservierung, die vorschrieb, dass der Nachfolger eines Pfarrers dessen Witwe oder Tochter zwingend heiraten musste, wollte er die Stelle besetzen (24). Den Nordischen Krieg 1655-60 erörternd, wäre sicher die Lektüre Opitz' [2] von Wert gewesen, zu sehr stützt sich Krethlow bei derartigen Ausführungen auf die postum erschienene Pommersche Geschichte Hans Branigs. [3]

Ein beachtlicher Fehler unterläuft Krethlow, indem er schreibt, "als die Pächter ihren Zins auf den ersten fertigen Termin nicht bezahlten, drohte die Universität mit der Vertreibung der Bauern von ihren Höfen, der sogenannten Exekution". (136) Hiermit ist die "militärische Exekution" gemeint. Sie war ein in der Frühen Neuzeit gebräuchliches Mittel, bei dem mit Hilfe von Zwangseinquartierungen Abgaben oder eine Verhaltensänderung abgepresst. Es handelte sich jedoch keineswegs um Vertreibungen. Befremdlich wirkt auch der in den Zusammenfassungen plötzlich unternommene Versuch, die Leibeigenschaft neu bewerten zu wollen, obgleich in den Kapiteln kaum die Rede von Leibeigenschaft ist. Seine überaus treffende Darstellung des bäuerlichen Alltags bietet hinreichend Gegenargumente zu der von ihm postulierten "Leibeigenschaft" als "einer frühen Form des Wohlfahrtsstaates". Ein interessantes Beispiel für den hohen sozioökonomischen Druck, der von Seiten der Universität auf die Bauern ausgeübt wurde, bietet die Aufnötigung neuer Pachtverträge in den Jahren 1794-98, die eine Anhebung der jährlichen Abgaben um 100 Prozent mit sich brachte. Krethlow zeigt auch, dass innerhalb des ökonomischen Systems Spielräume zur Entfaltung eigener Wirtschaftsinteressen bestanden. Politische Veränderungen brachten Spielräume mit sich, die die Landbevölkerung nutzte. Dies betraf vor allem die Zeit nach der napoleonischen Besetzung, als sich viele Büdner nicht mehr an vertragliche Vereinbarungen hielten.

Krethlow bringt sowohl Konflikte als auch Beispiele für die Zusammenarbeit der Bauern in Fragen der Abwehr neuerlicher Abgaben zur Sprache, so etwa in den 1730er Jahren, als die Stralsunder Regierung eine Erhöhung der Steuern ankündigte. Hier erfährt das Verhältnis zwischen Pächtern und universitärem Amt eine differenzierte Darstellung, die keineswegs nur Konflikte thematisiert, sondern die wechselseitigen Abhängigkeiten berücksichtigt. So konnte der Universität nicht an einer existenzbedrohenden Abgabenlast gelegen sein, wollte sie nicht den Fortzug der Pächter provozieren.

Der gelegentlichen Kritik zum Trotze liest man die Arbeit dennoch gerne und mit großem Gewinn. Ihre besondere Stärke liegt in der mikrohistorischen Perspektive und der Nähe zu den vorgefundenen Quellen.

Eine umfassende Bibliographie, sowie einige das Verständnis der Arbeit fördernde Übersichten und umfassendes Bildmaterial aus den Familienarchiven beschließen den Band, dem sicher genealogische Tafeln gutgetan hätten.

Insgesamt liegt eine auch methodisch familiengeschichtliche Arbeiten anregende Studie vor, die weniger das Phänomen Mobilität erörtert als vielmehr die Lebenswelt der pommerschen Landbevölkerung mikrohistorisch erschließt. Dennoch ist der Ansatz, der Arbeit ein phänomenologisch breiteres Fundament zu geben, sinnvoll. Gerade die detaillierte Schilderung des Lebens im 17. und 18. Jahrhundert lässt die Auflösung der Grenzen und die zunehmende Mobilisierung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert umso augenscheinlicher werden. Eine Arbeit liegt vor, die dem Leser das Leben und Wirken einfacher Menschen anschaulicher vermittelt, als jede politisch-historische Studie dies vermag bzw. vermöchte.


Anmerkungen:

[1] Eckardt Opitz: Österreich und Brandenburg im schwedisch-polnischen Krieg 1655 bis 1660. Vorbereitung und Durchführung der Feldzüge nach Dänemark und Pommern, Boppard 1969.

[2] Hans Branig: Geschichte Pommerns. Teil 2: Von 1648 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Köln / Wien 2000.

[3] Alexander Zinn: Von "Staatsfeinden" zu "Überbleibseln der kapitalistischen Ordnung". Homosexuelle in Sachsen 1933-1968, Göttingen 2021, S. 81f.

Martin Meier