Elena Smiljanskaja / Jurij Lejkin (Hgg.): "Russkaja vernost', čest' i otvaga" Džona Ėlfinstona. Povestvovanie o službe Ekaterine II i ob Archipelagskoj ėkspedicii Rossijskogo flota, Moskau: Novoe literaturnoe obozrenie 2020, 592 S., ISBN 978-5-4448-1183-2, RUB 660,00
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Stefan Ragaz: Religija. Konturen russischer Religionskonzepte im Orientdiskurs des 19. Jahrhunderts, Würzburg: Ergon 2021
Seit Beginn des 18. Jahrhunderts kam das Zarenreich unter der Ägide Peters des Großen auf die Spiel- und Schlachtfelder der europäischen Großmachtpolitik. In diesem Kontext erlangte das russisch-britische Verhältnis eine neue strategische Bedeutung für beide Mächte. Russlands Aufstieg zur kontinentalen Großmacht veränderte das Kräfteverhältnis in Europa; Russlands neu errichtete Kriegsmarine brauchte das britische know how. Die katharinäischen Kriege Russlands gegen die Osmanen gaben den russisch-britischen Kontakten neue Impulse, sogar ein Bündnis war im Gespräch. Auch wenn die politische und strategische Interessenlage beider Länder sehr divergent blieb, intensivierte sich die ökonomische und außenpolitische Interaktion zwischen beiden Mächten. Die russische Admiralität brauchte für den Krieg gegen das Osmanische Reich hochqualifizierte britische Seeleute und Schiffsbauer. Unten den ersten britischen Fachleuten, die auf die Einladung Katharinas II. nach Russland kamen, befand sich John Elphinston, ein verdienter Schiffskapitän. Über seinen gerade mal zwei Jahre währenden Dienst in Russland hinterließ er einen ausgedehnten Bericht unter dem Titel "Russian Faith, Honor & Courage displayed In a Faithfull Narrative of the Russian Expedition by the Sea In the Year 1769 and 1770 [...]" (weiter Narrative). Im Zentrum seines Berichts steht die berühmte Erste Archipel-Expedition der russischen Marine unter dem Kommando von Aleksej Orlov, welche den Beginn der russischen Präsenz im Mittelmeer markierte.
Im Rahmen des Projekts "Archivalia Rossica" legt nun der Verlag Novoe Literaturnoe Obozrenie die russische Übersetzung des Werkes von Elphinston als die erste wissenschaftliche Edition dieser Quelle vor. Wenn auch in den Fachkreisen nicht geläufig, steht dieser Bericht nach seinem Umfang und seiner Bedeutung in einer Reihe mit bereits bekannten Quellen, wie den Memoiren anderer Teilnehmer der Archipel-Kampagne, darunter die von Samuel Greig und von den Generälen Dolgorukov und Spiridov. Andererseits stellt diese Quelle eine gewichtige Ergänzung zu den bereits bekannten Narrativen anderer Briten in Russland in dieser Zeit dar, darunter Briefe von Thomas MacKenzie, Robert Dugdale, Charles Cathcart. Mit dem Narrative liegt fortan der ausführlichste Augenzeugenbericht über die Archipel-Kampagne und die schonungsloseste Darstellung der russischen Flotte dieser Zeit vor. Dieser Text besticht durch die große Genauigkeit in der Wiedergabe von Fakten, oft chronometrisch exakt, gleich einem Schiffsjournal.
Nach einer kurzen Einleitung gliedert sich die Edition in drei große Abschnitte: die Untersuchung als wissenschaftlicher Teil; der Text des Narrative in russischer Sprache; eine Beilage bestehend aus einem biographischen Essay über John Elphinston und seine Familie aus der Feder seines Enkels Alexander F. Elphinston; sowie den Übersetzungen von Maßen, Schiffsarten, die im Text erwähnt werden, Verzeichnisse von Kürzungen, persönlichen und geographischen Namen und Liste von Abbildungen.
Die Untersuchung besteht aus sechs Kapiteln, die meisten verfasst von Elena Smiljanskaja, einer ausgewiesenen Spezialistin für Quellenkunde und die Geschichte der imperialen Politik Katharinas II. Zuerst wird die Biographie von Elphinston und sein Dienst in Russland samt den Unwägbarkeiten, die ihm dabei widerfuhren, geschildert. Die Umstände seiner raschen Entlassung aus der russischen Marine dienten Elphinston zum Anlass für das Verfassen von Narrative. Die Herausgeber nehmen diese als Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Figur Elphinston und seines Berichts. Dies gelingt ihnen in einem guten erzählerischen Stil und auf wissenschaftlich fundierte Weise. Elphinstons Dienst in Russland und sein Bericht werden historisch gleich in mehreren Kontexten eingerahmt. Dem biographischen Unterkapitel folgen die Schilderung der Besonderheiten der Erzählung von Elphinston und die Analyse strittiger Fragen der Archipel-Expedition. Daran schließt sich die Untersuchung zu den Kommentaren Elphinstons über die Personen, denen er während seiner Zeit in Russland begegnete. Im folgenden Kapitel (verfasst von Lejkin) wird die britische Erfahrung der Seefahrt im Kontext des russischen Dienstes Elphinstons analysiert, dabei kommen solche Aspekte zur Sprache wie Anwerbung von See- und Fachleuten in England für die zarische Flotte, Transfer von Technologien, medizinische Expertise in der Seefahrt, Praktiken von Disziplin und Strafe auf den Schiffen, Zahlungspraktiken und Seerecht. Daran schließt sich eine archeographische Beschreibung der Bestände des in der University of Princeton aufbewahrten Elphinston-Archivs an.
Der Hauptteil der Edition beeindruckt durch die sprachliche und wissenschaftliche Qualität. Man erahnt den enormen Arbeitsaufwand, der hinter der Vorbereitung der Übersetzung steht. Die Edition ist im hohen Maße archivbasiert. Anhand der ausgedehnten Archivarbeit wurde ein Abgleich von in Elphinstons Text enthaltenen Angaben mit Archivalien durchgeführt: die Bestände in den russischen Archiven, darunter RGA der Marine und AVPRI, der schottischen NLS und NRS sowie der britischen TNA wurden herangezogen, schließlich die Abteilung der Handschriften der University of Princeton. Die sprachliche Qualität der Übersetzung besticht durch die Authentizität, mit welcher die lexikalischen Eigenarten des 18. Jahrhunderts aus dem Englischen ins Russische übertragen werden.
Seinem Genre nach lässt sich Narrative dem Seefahrt-Travelog zuordnen. Andererseits stellt dieser Bericht eine Aufstellung der Leistungen Elphinstons im Dienst in der russischen Marine dar, ist eine Art Rechnung an den russischen Staat. Dieser Umstand beeinflusst den Stil und den Informationsgehalt des Berichts. Elphinston ergänzte seine Erzählung mit allerlei Belegen, darunter Kopien von Befehlen, Bitten an den allerhöchsten Namen, Auszüge aus dem Schiffsjournal und so fort. Diese Einlagen behielten die Herausgeber im Text.
Der Text von Elphinston selbst ist eine hochinteressante Quelle. Er erzählt nicht vom Standpunkt eines Betrachters, sondern als ein Fachmann und handelnde Person, die einen Expertenblick auf die russischen Flotte hatte, und als Befehlshaber und Stratege in die beschriebenen Begebenheiten involviert war. Die Editoren diskutieren in ihren Kommentaren verschiedene Narrative und Interessen der Autoren in den Ausdeutungen der Ereignisse. So wirft der Kampf zwischen Elphinston und Orlov um die öffentliche Meinung über die Ereignisse in den Dardanellen ein Schlaglicht darauf, dass es im russisch-osmanischen Krieg konkurrierende Narrative gab.
Die Herausforderung eines ausländischen Ankömmlings, sich in die adligen und Dienstkreisen, in die Patronage-Netzwerke einzufügen, um im Dienst überhaupt bestehen zu können, und wie Elphinston daran scheitert, wird im Text eindrucksvoll gezeichnet. Elphinston wird in seinem Bericht als ein Vertreter der Fachleute aus den mittleren Diensträngen greifbar. Er tritt als ein Akteur im Prozess des Wissenstransfers hervor, der sich vor die Herausforderung gestellt sah, britische technologische Novitäten zu implementieren, um Russlands Rückständigkeit (backwardness in Elphinstons Wortwahl) zu überwinden. Elphinston verstand es dabei sehr wohl, sich in dem "technical drama" als Experte in Szene zu setzen. Zwischen den Zeilen seines Berichts lässt sich herauslesen, dass die russische Flotte in diesen Transferprozessen nicht bloß ein passiver Empfänger war, sondern auch ein Versuchsfeld und Investor.
Elphinstons Bericht enthält vielerlei Hinweise, die für Kultur- und Verflechtungsgeschichte wichtig sein werden: die Unterschiede und die sich daraus ergebende Kollisionen zwischen den britischen und russischen Strategien zur Erhaltung von Gesundheit und Leben der Besatzung, Kollisionen zwischen britischen und russischen Verhaltensnormen der Mannschaften, Unterschiede in den Rechtsauffassungen der britischen und russischen Seefahrt, zum Beispiel in der Frage der Preisgelder, die ja als Anlass für das Abfassen von Narrative gedient hatte. Mit dieser Edition führen die Herausgeber in den wissenschaftlichen Umlauf eine Quelle von unschätzbarem Wert für die Global- und Kulturgeschichte der Aufklärung.
Alexander Bauer