Oren Yiftachel: Landed Power. Israel/Palestine between Ethnocracy and Creeping Apartheid, Tel Aviv: Resling 2021, 460 S., ILS 94,00
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Wie verhalten sich Macht und Land im zionistischen Israel? Was bedeutet dieses Verhältnis für das historisch gewachsene Staatswesen? Und welche Rolle spielt dabei die zionistische Staatsideologie? Oren Yiftachel will in seinem neuen Buch den Konnex von politischer Macht und Raum - beziehungsweise Bevölkerungspolitik ausloten, allerdings "losgelöst von der zionistischen [Staats-]Ideologie" (16). Der israelische Polit-Geograf von der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva ist nicht nur ein wichtiger Theoretiker der "Ethnokratie", sondern dazu auch überzeugter Friedensaktivist. Mit diesem Buch wendet sich Yiftachel an seine Landsleute und präsentiert seine wissenschaftliche Arbeit in diesem Umfang erstmals dem hebräisch lesenden Publikum. Der Autor will das von Israel beherrschte Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer gleichsam einer neuen Lesart unterziehen, um konstruktive Kritik zu üben. Dabei ist die Versöhnung mit den Palästinensern ein ausdrückliches Ziel. Yiftachel spricht sogar von der Notwendigkeit einer Wiedergutmachung.
"Kritik und Tikun" (Wiedergutmachung) heißt auch die Einleitung, in der Yiftachel bereits tiefgreifende Ideologiekritik übt. Seine Leitbegriffe: "Kolonialismus", "Apartheid", "Ethnokratie", "Besatzung", "Unterdrückung" (15) sind dem innenpolitischen Diskurs eines Staatswesens, das sich als jüdisches und demokratisches versteht, wohl kaum geläufig. Dabei lasse sich Israels Staatswesen ohne diese Merkmale nicht wirklich erfassen: Die "Ethnokratie" - ein auch von Yiftachel geprägter Begriff - definiert er hier als "ein Regime, das nach außen zwar mit oberflächlichen Demokratiemerkmalen ausgestattet ist, im Kern jedoch dazu dient, die Überlegenheit einer Ethnie in einem Vielvölkerstaat zuzusichern." Als "Kolonialismus" definiert er die "Okkupation eines Lebensraums durch eine von außen kommende Bevölkerungsgruppe". Und dem "Apartheid-Regime" schließlich liege das Prinzip von "Trennung ohne Gleichberechtigung" zugrunde, das mithilfe einer Reihe von Gesetzen und Verordnungen, Normen der Segregation von Staatsbürgschaft und Identitäten bis hin zur politischen Entrechtung etabliere (16). Zentraler Begriff dabei ist die "Judaisierung" des Lands als Israels Staatsräson. Die "Kolonialisierung" vollziehe sich "mit erheblicher und multidimensionaler Anstrengung". Zerstörung, Vertreibung, Vernachlässigung und fortschreitende Einschränkung des palästinensischen "Raums" geschehe parallel und führe zu "eingekreisten Ghettos" (15) in den besetzten Gebieten.
Im zweiten Kapitel "Zur Theorie ethnokratischer Staaten: Politik der ethno-nationalen Expansion" zieht Yiftachel einen Vergleich zu Estland und Sri-Lanka, die wie Israel eine "ethnokratische" Staatslogik verfolgten. Das Kapitel "Von Macht und Land" zeigt die Dynamiken der territorialen Expansion jenseits des Staatsgebiets auf und skizziert zugleich die Segregationspolitik im Kernland Israels. Hier geht es Yiftachel um die daraus entstandene "ethnokratische Gesellschaft" (60). Aufgrund der langjährigen Politik der Landaneignung hätten sich Normen und Praktiken der "Judaisierung" des Lands auf allen gesellschaftlichen Ebenen etabliert. So sei es dem Staat gelungen, das höchst konflikthafte zionistische Projekt zum israelischen Staatsverständnis zu entwickeln.
Im vierten Kapitel "Von Sharon zu Sharon" analysiert Yiftachel die Rolle der beiden Architekten des israelischen "Lebensraums", des Raumplaners der Gründungsjahre Arye Sharon sowie des Generals und Politikers Ariel Sharon. Beide prägten - so der Autor - die raffinierte Raumplanungsstrategie, die gleichzeitig auf Verstaatlichung und Privatisierung setze: Während der Staat sich ab 1949 palästinensisches Land nicht zuletzt per Gesetz aneignete, kontrollierte und regulierte er den Landverkauf. Privatinvestoren kamen nur dann zum Zuge, wenn sie dem Projekt der "Judaisierung" des Lands verpflichtet waren. Im Anschluss fragt Yiftachel daher: "Schleichende Apartheid? Regime, Raum und Staatsbürgerschaft". Dieses Kapitel behandelt die mit dem Zugang zu Land und damit Macht gekoppelte, segregierte Staatsbürgerschaft und ihre Bedeutung für die Zukunft des Staatswesens.
Kapitel 6 - "Kolonialismus und die Städte Abrahams: Religiöser Fanatismus" - thematisiert den wichtigen Aspekt des religiös bezogenen urbanen "Kolonialismus". Anhand der faszinierenden Geschichte der versuchten "Judaisierung" der drei Städte Jerusalem, Hebron und Beer Sheva illustriert Yiftachel den Prozess der "Politisierung der Religion" (159), der sich in den letzten Jahren verstärkt und beschleunigt hat. Auch wenn jeder dieser Städte ein anderer Status zukommt - Hebron und Ostjerusalem liegen außerhalb des international anerkannten israelischen Staatsgebiets - wird hier die Bedeutung der "Judaisierung" solcher "gemischter" Städte aufgezeigt: Bei beiden Gesellschaften vollziehe sich, eine "Politgeografie des religiösen Fanatismus" (148).
Im Weiteren geht es gleichsam um die innere "Kolonialisierung": Kapitel 7 behandelt den Konnex von zionistischem Raum, zionistischer Landschaft und hebräischen Liedern. Hier arbeitet Yiftachel die sinnstiftende, beziehungsweise politisch-kulturelle Funktion von populären Songs, die sich auf das Land beziehen, für das zionistische Projekt heraus. In den Kapiteln 8 und 9 geht es um mit Immigration und Wohnpolitik gekoppelte Identität und um das Selbstverständnis der jüdisch-israelischen Opfer von Diskriminierung. Es handelt sich hierbei um die in den 1950er und 1960er Jahren zugewanderten arabischen Juden (Misrahim) und die jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die räumlich - damit aber auch politisch-sozial und politisch-kulturell - an den Rand gedrängt worden seien. Die unterentwickelte Peripherie bezeichnet der Autor als "einen dritten Raum" (253). Bei den Misrahim ist die Rede von einer "Identitätsfalle" (253), denn obwohl in den Gründungsjahren systematisch marginalisiert, eigneten sich diese sehr bald die Staatsideologie des jüdischen Nationalismus beinahe unkritisch an.
Eine weitere israelisch-palästinensische Randgruppe - die Beduinen - nimmt Yiftachel in den folgenden beiden Kapiteln in den Blick. Die hier verwendeten Begriffe "Binnenkolonialismus", "Grauzone" oder "Terra nullius" verweisen darauf, dass auch die Beduinen der zionistischen Staatslogik zum Opfer fallen. Jahrzehntelang dienten Landenteignung und Landverstaatlichung zionistischen Zwecken. Ebenso wie in den besetzten palästinischen Gebieten stütze sich Israel auch in seinem Kernland auf eine Regel aus osmanischer Zeit, nach der verlassenes, sprich nicht kultiviertes Land nach einer bestimmten Zeit als Niemandsland definiert wird und somit in das Eigentum des Staats übergeht.
Doch der Autor und Friedensaktivist will auch Wege des Widerstands - ob juristischer, politischer oder gesellschaftlicher Art - aufzeigen. Es geht ihm schließlich um Tikun. Die drei letzten Kapitel widmet er daher der neu zu denkenden Raumgestaltung, entweder durch Urbanisierung der jüdisch-israelischen Peripherie hin zu kulturell-wirtschaftlich entwickelten Städten, durch die vorwiegend auf sozialer Gerechtigkeit basierenden "gerechte Modellstadt" oder durch eine für den gesamten Raum Israel/Palästina neu zu denkende, politische "israelisch-palästinensische Konföderation". Das Modell der politischen Konföderation sollte lösungsorientiert sein, weil es eine "graduelle Bi-Nationalisierung" (408) des politischen Raums ermögliche, was zu dessen Postkolonialisierung und Demokratisierung führen könne. Die traditionelle Debatte zwischen Ein-Staat- oder Zweitstaatenlösung ist für Yiftachel irrelevant. Nur die Konföderation verspreche einen Ausweg aus der gefährlichen Sackgasse der "schleichenden Apartheid" und "kolonisierenden Demokratie" (393), die den Untergang beider Völker bedeute.
Yiftachels lesenswertes und engagiertes Buch lässt eine Frage unerörtert: Wie realistisch ist sein Konföderationsmodell angesichts des immer stärker grassierenden Neo-Zionismus? Zwar will Yiftachel die "post-zionistische" versus "zionistische" Debatte als "fruchtlos" (23) beiseiteschieben. Doch ohne tiefergehende Erörterung der Wirkmächtigkeit dieser dynamischen jüdischen Nationalbewegung lassen sich Israels Grundstrukturen nicht verstehen. Jede Lösung der Palästina-Frage muss Israels zionistischer Staatsideologie Rechnung tragen.
Tamar Amar-Dahl