Charlotte Klonk: Revolution im Rückwärtsgang. Der 6. Januar 2021 und die Bedeutung der Bilder, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2021, 71 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-7533-0164-8, EUR 12,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Seit Juli 2021 bemüht sich ein Untersuchungsausschuss des US-Repräsentantenhauses, mehr über die Hintergründe und Verantwortlichen des Einbruchs in das Kapitol am 6. Januar 2021 herauszufinden. Vor allem die in öffentlichen Anhörungen getätigten Zeugenaussagen von Personen aus dem Umfeld von Donald Trump haben dabei immer wieder überraschende Einzelheiten zutage gebracht. Zunehmend hat sich der Eindruck verdichtet, dass dieser in der US-Geschichte einmalige Vorfall eines nicht-friedlichen Machtwechsels alles andere als ein Versehen oder nur eine Verkettung misslicher Umstände war. Doch was genau war er eigentlich?
Diese Frage zu beantworten, hat sich Charlotte Klonk in ihrem Buch zur Aufgabe gemacht. Und so setzt die Professorin für Kunstgeschichte an der Berliner Humboldt Universität bildwissenschaftliche Methoden in geradezu forensischer Ambition ein. Als ginge es um ein Gerichtsgutachten, versucht sie auf der Grundlage der zahlreichen - meist in den Social Media geposteten - Fotos und Videos der Ereignisse vom 6. Januar 2021 zuerst einmal verschiedene Deutungen auszuschließen. Gegen die Klassifizierung als Terrorakt spricht etwa, dass schon vorab auf Twitter, Telegram, Parler und anderen Plattformen - also ganz öffentlich - zu Protesten gegen die offizielle Bestätigung des Wahlsiegs von Joe Biden aufgerufen worden war. Genauso wenig aber lässt sich gemäß Klonk von einem Putsch sprechen, waren die Protestierenden doch alles andere als eine eingeschworene Gruppe; vielmehr entstammten sie, schon an ihren Outfits erkennbar, verschiedenen Milieus und verfolgten jenseits ihrer Unterstützung von Trump sicher auch unterschiedliche Ziele. Für manche mochte es sogar vor allem ein emotionaler, erhabener Moment gewesen sein, plötzlich im Kapitol zu stehen; mit vielen Selfies vor Ort zelebrierten sie ihren Stolz darüber, gerade Geschichte zu schreiben. Dennoch wäre es verharmlosend, so Klonk, den Beteiligten einfach nur Spaß an Selbstheroisierungsphantasien zu unterstellen.
Es ist vor allem ein Indiz auf vielen Bilddokumenten vom 6. Januar 2021, das Klonk dazu veranlasst, die Geschehnisse in Washington dann selbst als "Revolution im Rückwärtsgang" zu klassifizieren - und entsprechend auch ihre Publikation zu titulieren: "Das vielleicht Auffallendste an diesem Tag war, dass der Platz vor dem Kapitol von einer unendlichen Anzahl an Flaggen geradezu überschwemmt wurde" (30). Bei allen vergleichbar großen Protestmärschen der jüngeren US-Geschichte hingegen - Klonk nennt die Black-Lives-Matter-Proteste wenige Monate zuvor als Beispiel - sah man statt Flaggen vor allem Pappschilder, auf denen die Demonstrierenden ihren Protest oder ihre Forderungen artikulierten.
Die verschiedenen Typen von Flaggen, die die Aufständischen am 6. Januar 2021 mit sich führten und deren Motive oft auf den Unabhängigkeitskrieg und die Staatengründung 1776 Bezug nahmen, zeugt für Klonk davon, dass es ihnen "um den Erhalt der Größe der Nation ging" (31). Und so seien die Flaggen "wieder zum Feldzeichen" (ebd.) geworden, mit denen man Patriotismus und Kampfesgeist bekundet habe, vor allem aber zum Ausdruck bringen wollte, nicht gegen die USA, sondern für sie ins Feld zu ziehen. Allerdings machten die Flaggen mit Symbolen aus der Vergangenheit auch mehr als deutlich, dass man für eine Restitution einer vermeintlich besseren Vergangenheit kämpfte, eine gute alte Zeit beschwor, in der 'white supremacy' noch als selbstverständlich galt und auf keine Minderheit Rücksicht zu nehmen war: "Was am Selbstverständnis der Akteure vom 6. Januar so verstört, ist die offensiv ausgestellte Überzeugung, dass es um die Verteidigung der Errungenschaften der Revolution 1776 und der gut zehn Jahre später verabschiedeten Verfassung geht, einer Zeit, als die Geschicke der Demokratie noch ausschließlich in den Händen weißer Männer lag" (16f.).
Dass Klonk die Bilddokumente vor allem auf das Selbstverständnis der Akteure hin untersucht, lässt deren Handeln zwar vielleicht weniger erschreckend und kriminell erscheinen als in vielen anderen Untersuchungen des Einbruchs in das Kapitol, dennoch neigt die Autorin nicht zur Verharmlosung der Ereignisse. Vielmehr betont sie, wie eindeutig die juristische Lage war, so dass sich die Aufständischen auf "kein irgendwie über die Unabhängigkeitserklärung herzuleitendes Widerstandsrecht" (13) berufen konnten. Umgekehrt aber erlaubt ihr Ansatz, aus der Bildästhetik des Protests auf Motivationen und Mentalität der Protestierenden zu schließen und so tiefe, höchst beunruhigende Einblicke in die aktuelle Gefährdungslage der US-Demokratie zu gewinnen.
Das ist sicher das größte Verdienst der schmalen Schrift, die man sich tatsächlich noch viel umfangreicher wünschen würde. So wäre es etwa erhellend, nicht nur Fotodokumente des 6. Januar 2021 zu betrachten, sondern genauso die Memes und Hetzbilder zu analysieren, mit denen die Ereignisse dieses Tags in den Social Media vorbereitet und im Nachhinein kommentiert wurden. Außerdem gäbe es dann mehr Platz für kunsthistorische Exkurse, die in der vorliegenden Fassung zu kurz und pflichtschuldig ausfallen. Vor allem der Rekurs auf Joseph Beuys' Ausstellungsplakat "La rivolutione siamo noi" (1972) wirkt etwas unvermittelt und anekdotisch. Von solchen kleinen Mängeln abgesehen ist Klonks forensische Bildwissenschaft aber - gerade auch wegen ihrer Kompaktheit - höchst empfehlenswert und findet hoffentlich viele Nachahmer:innen.
Wolfgang Ullrich