Angelika Nußberger / Martin Aust / Andreas Heinemann-Grüder u.a. (Hgg.): Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg. Besichtigung einer Epoche, Berlin: Suhrkamp 2022, 254 S., ISBN 978-3-518-12777-3, EUR 18,00
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Am 27. Februar 2022 prägte Olaf Scholz den Begriff der Zeitenwende neu. Die Bedeutung dieser historischen Zäsur - markiert durch den Beginn des Angriffskrieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine - wurde sogleich breit diskutiert. Es setze eine neue Epoche ein, so die häufige Schlussfolgerung: Das Scheitern des umstrittenen Konzeptes "Wandel durch Handel", eine Neuausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik, die Notwendigkeit der energiepolitischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Russland und China und vieles mehr.
Doch es ist noch keineswegs ausdiskutiert, welche Epoche damit endete und welche Charakteristika sie ausmachten. Gerade mit Blick auf den ubiquitären Begriff Transformation, der von der Geschichtswissenschaft auch für die Entwicklungen in Ost(mittel)europa ab den späten 1980er-Jahren benutzt wird, ist die Einziehung einer Epochengrenze hoch interessant. Bis heute herrscht kein Konsens darüber, bis wann diese Transformation(en) in den ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten vor sich gingen.
Das interdisziplinäre Team Martin Aust (Historiker), Andreas Heinemann-Grüder (Politikwissenschaftler), Angelika Nußberger (Juristin/Slawistin) und Ulrich Schmid (Kulturwissenschaftler) hat nun eine Besichtigung dieser Epoche vorgelegt.
Neben der Frage nach der zeitlichen Begrenzung der Epoche widmet sich das Buch ebenfalls der Frage, welche räumliche Begrenzung das Konstrukt Ostmitteleuropa hat, beziehungsweise wo die politischen und kulturellen Grenzen zwischen der östlichen und westlichen Hemisphäre verlaufen.
Der Band gliedert sich in sechs Kapitel, die jeweils auf eigene Gebiete fokussieren. So taucht das Buch in den Komplex mit der Feststellung ein, dass Europa durch den Krieg so gespalten sei, wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Jegliche trübe Hoffnung auf ein freies, geeintes und friedliches Europa inklusive Belarus und Russland seien von Bomben und Panzern für lange Zeiten beerdigt worden.
Die Bestimmung des Ost(mittel)europäischen fällt stark kultur- und literaturwissenschaftlich aus. Zunächst rezipiert das Autorenteam die Bestimmungsversuche verschiedener in Deutschland wenig gelesener politischer Denker wie Jenő Szűcs, István Bibó und Guglielmo Ferrero und gibt anschließend einen kenntnisreichen und aktuellen Überblick über das Politikverständnis der Gegenwartsliteratur in Russland, Belarus, Polen und der Ukraine. Gerade für die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der Ukraine hat sich mit dem Angriffskrieg eine fundamentale Zäsur ergeben: Die russische Sprache wurde spätestens hierdurch von der alten Literatursprache Tolstois, Dostojewskijs und Gogols zu einer Sprache des Imperialismus und viele Autorinnen und Autoren nutzen seither ausschließlich die ukrainische Sprache.
Daraufhin werden interessante Bestimmungen des Ostmitteleuropäischen vorgenommen: Die Heterogenität, die "prekäre Erfahrung von Frustration und Fremdherrschaft" (64), die Bedeutung von Religion für die nationalpolitische Identität und - sehr zentral - die "postsozialistische Befindlichkeit" (67), die sich vor allem durch die Enttäuschung über den ab 1990 verordneten "Nachahmungsimperativ" (Ivan Krastev) auszeichnet: Denn den gleichen Wohlstand wie (West-)Deutschland und Frankreich konnte Ostmitteleuropa sich bis heute nicht erarbeiten, obwohl es sich den neoliberalen und politischen Reformvorgaben beugte. Somit sei der neoimperiale Rückbezug Ungarns auf die Stephanskrone und derjenige Polens auf die das einst mächtigste Polen-Litauen mit gleichzeitiger Ablehnung liberaler Brüsseler Ideen zu erklären. Die Autorin und die Autoren folgen hiermit letztlich Krastevs Thesen aus "Das Licht, das erlosch - Eine Abrechnung" (2019).
Eine genau zu bestimmende Grenze zwischen Ost und West sieht das Autorenteam dann in dem unterschiedlichen Umgang mit LGBTQ*-Rechten, an dem sich "ziemlich genau" der "Verlauf des Eisernen Vorhangs" erkennen lasse (77). Man möchte hier entgegnen, dass selbst auf dem Gebiet der ehemaligen DDR diese Frage komplizierter ist: Wurden 2022 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Christopher Street Day sowohl im westdeutschen Münster, als auch im ostdeutschen Dresden angegriffen, ist ein solcher Angriff in Leipzig oder im Osten Berlins bei Pride-Märschen schon länger nicht mehr vorgekommen. Auch im liberalen Prag und Budapest können queere Menschen vergleichsweise gut leben, während die homophobe Wählerbasis der rechtspopulistischen Parteien eher auf dem Land zu finden sei. Hier trübt die Makroanalyse die Brille, eine Differenzierung von urbanen und ruralen Gebieten wäre sinnvoll gewesen.
Politikwissenschaftlicher wird im dritten Kapitel argumentiert: Produktiv und aufschlussreich ist die Binnendifferenzierung Osteuropas, wobei hier die Leitfrage gestellt wird, warum sich manche Staaten trotz oberflächlich gleicher Ausgangslage ab 1989/90/91 in 30 Jahren so unterschiedlich entwickelten. Das Buch schlägt eine dreiteilige Kategorisierung vor: 1. "Demokratische Staaten mit fehlerhafter Demokratie" (Baltische Staaten, Tschechien und Slowakei), 2. Die "hybriden" frei-unfreien und korrupten Staaten in Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und der Ukraine und 3. die postsowjetischen Autokratien in Russland, Belarus, Aserbaidschan und Zentralasien (93). Die Autorin und die Autoren schließen ihre Kategorisierung: "Es gibt demnach Staaten, die den langen Weg nach Westen erfolgreich gegangen sind, solche, die innehielten oder umkehrten, und solche, die sich nie wirklich auf den Weg gemacht hatten" (94).
Nicht fehlen darf ein Überblick über die Rolle von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Osteuropa sowie deren Instrumentalisierung durch Putin, um seine neoimperialen Ambitionen zu rechtfertigen. Wer aufmerksam aktuelle Debatten verfolgt, erfährt wenig Neues, doch überrascht die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Osteuropageschichte an deutschen Hochschulen.
Vor dem sechsten Kapitel wird eine aufschlussreiche Analyse der Bedeutung des Völker- und Staatsrechtes im Osten Europas gezogen, die in der Feststellung gipfelt, dass Recht, Gesetz und Werte nicht nur in Polen, Ungarn oder Russland ignoriert werden, sondern auch in den USA, Frankreich und Italien. Gibt es also den Osten gar nicht, da populistische Rechtsstaatsverachtung ein Phänomen der gesamten Postmoderne ist?
Nein, denn wirklich stark ist das Buch, wenn es die fundamentale Dimension der Zeitenwende geografisch definiert und feststellt, dass die Verteidigung der Ukraine gegen Russland "eine neue West-Ost-Karte" zeichne (246). Diese Perspektive lässt nämlich die inneren Probleme der EU und der "hirntoten" NATO (Emmanuel Macron) vergessen und bringt Partner wieder an einen Tisch, die sich zentrifugal zu entwickeln begannen. Vor allem ist mit einem Mal Russlands Soft-Power sowohl in der SPD als auch bei Rechtspopulisten in Westeuropa verpufft.
Somit lädt das Buch trotz seines düsteren Anlasses dazu ein, sich mit der Region zwischen Berlin und Perm eingehend und multidimensional auseinander zu setzen. Der Band profitiert davon, kein zusammengewürfelter Sammelband, sondern ein sauber durchstrukturierter Fließtext zu sein. Die Interdisziplinarität ist auf jeder Seite positiv zu erkennen, sodass die Lektüre kurzweilig und informativ ausfällt.
Adrian Weiß