Rezension über:

Andrea Stieldorf (Hg.): Die Urkunde. Text - Bild - Objekt (= Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte; Bd. 12), Berlin: De Gruyter 2019, VIII + 429 S., 89 Farb-, 52 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-064396-1, EUR 102,95
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Rezension von:
Sebastian Roebert
Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Roebert: Rezension von: Andrea Stieldorf (Hg.): Die Urkunde. Text - Bild - Objekt, Berlin: De Gruyter 2019, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/36153.html


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Andrea Stieldorf (Hg.): Die Urkunde

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Entgegen vieler Unkenrufe erfreuen sich diplomatische Studien ungebrochener Popularität, wovon auch der vorliegende Band zeugt. Mit den hier veröffentlichen Beiträgen einer im Jahre 2017 in Bonn durchgeführten Tagung sollten neue Impulse für eine methodische Erweiterung diplomatischer Zugänge gesetzt werden. Einerseits sollten die Grenzen des lateinisch geprägten Raumes überschritten und andererseits interdisziplinäre Ansätze in die Debatte eingebracht werden (1f.). Der Band gliedert sich in drei Abschnitte, deren erster in fünf Beiträgen das Thema "Urkunden als Quellen und Rechtsmittel" behandelt (19-160). In den folgenden fünf Aufsätzen der zweiten Sektion stehen "Urkunden als Schriftbilder zwischen Recht und Repräsentation" im Mittelpunkt (163-361), während sich der letzte Teil mit drei Beiträgen dem "Medienwechsel. Urkunden in Kopiaren und auf Stein" widmet (331-417) widmet.

Dabei unterscheiden sich die Ansätze der einzelnen Autoren sehr stark voneinander, wie besonders der erste Abschnitt illustriert. Die interreligiöse Interaktion zwischen Juden und Christen im spätmittelalterlichen Österreich, die sich unter anderem im Urkundenformular und den verschiedenen Gepflogenheiten der Beglaubigung äußert, steht im Beitrag von Eveline Brugger im Zentrum (19-40). Im Mittelpunkt stehen Kreditvergaben, wobei in den Urkunden ein pragmatischer Umgang zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen zu beobachten ist, der im Gegensatz zu den polemischen antijüdischen Äußerungen in anderen Quellen steht. Demgegenüber unternimmt Alheydis Plassmann anhand der Urkunden Heinrichs II. von England eine statistische Analyse, um unter anderem die Anbindung der Herrschaft auf einer regionalen Ebene zu analysieren (41-97). Wichtig sind neben den auf das Fallbeispiel fokussierten Ausführungen zudem die Überlegungen, die die Autorin über die Aufbereitung der Daten und die aus ihnen zu gewinnenden Informationen anstellt. Auf die literarische Verarbeitung von Beglaubigungselementen geht hingegen Andrea Schindler ein (99-124). In den literarischen Werken spielen die als brief bezeichneten Urkunden nur eine geringe Rolle, allerdings sind die Beobachtungen der Autorin qualitativ bedeutsam. Gattungsspezifische Betrachtungen stellt Klaus Herbers hinsichtlich der Abgrenzung zwischen Papsturkunden und -briefen an (125-139). Er arbeitet Unterschiede in der Gestaltung und vor allem Nutzung sowie auch der Überlieferung heraus. Terminologisch und heuristisch behandelt Christoph U. Werner die persisch-islamischen "Privaturkunden" (141-160). Er kontrastiert die traditionellen europäischen mit islamwissenschaftlichen Ansätzen und betont zu Recht die Notwendigkeit eines diachronen Ansatzes, der "nicht das frühe Mittelalter als Norm und spätere Entwicklungen als Abweichungen" (159) begreift. Die Beiträge dieses Abschnitts gehen signifikant über auf das Formular fixierte Analysen hinaus und reflektieren andere, grundsätzlich bedeutsame Aspekte diplomatischer Zugänge.

Homogener ist der zweite Teil, in dem die äußeren Merkmale thematisiert werden. Im ersten Beitrag nimmt Peter Schwieger tibetische Herrscherurkunden vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit in den Blick und umreißt auf diese Weise ein beeindruckendes Panorama (163-181). Andreas Müller widmet sich ebenfalls in einer diachronen Perspektive den graphischen Elementen in byzantinischen Herrscherurkunden (183-198). Die Privilegienurkunde wandelte sich im Verlauf der Zeit, wobei eine Vereinfachung der graphischen Merkmale zu beobachten ist. Eher wenig ergiebig fällt der Befund von Irmgard Fees zu den Symbolen in bischöflichen Urkunden aus (199-232). In dem breiten Parcours, den sie durchmisst, kann sie zwar eine große Spannbreite an Zeichen identifizieren, allerdings fanden diese keine weite Verbreitung. Gabriele Bartz untersucht die graphisch interessanten Sammelindulgenzen, die für wenige Jahrzehnte im 14. Jahrhundert von einer Werkstatt in Avignon angefertigt wurden (233-258). In der Kooperation der verschiedenen Mitglieder lässt sich ihr zufolge eine Weiterentwicklung des alles in allem nicht übermäßig innovativen Stils beobachten, wobei alte und neue Elemente zeitgleich verwendet wurden. Illuminierten Urkunden allgemein, die hier im Anschluss an Georg Vogeler definiert werden, widmet sich der letzte, sehr umfangreiche Beitrag dieses Abschnitts von Martin Roland (259-327). Er arbeitet deren performativen Einsatz unter Anwendung der von Michael Clanchy postulierten Kriterien Machen, Verwenden und Bewahren systematisch, wobei einige (ironische) Seitenblicke auf aktuelle Beispiele geworfen werden, heraus. Zentral ist die gesellschaftliche Funktion von Urkunden, die sich hier widerspiegelt.

Den letzten Abschnitt leitet der Beitrag zu Urkundeninschriften (und inschriftlichen Elementen in Urkunden) von Franz Bornschlegel (331-361) ein. Dabei kommen vor allem die wenigen bekannten Beispiele inschriftlich überlieferter Urkunden zum Einsatz, deren Merkmale der Autor sehr übersichtlich herausarbeitet, wobei der Ertrag leider sehr gering bleibt. Dabei kommen vor allem die wenigen bekannten Beispiele inschriftlich überlieferter Urkunden zum Einsatz, deren Merkmale der Autor sehr übersichtlich herausarbeitet. Daran anschließend geht Wolfgang Huschner auf die Frage nach der Anfertigung von Kopien am Beispiel italienischer Empfänger ein (363-381). Der Autor rückt dabei die Sicherung des eigenen Urkundenbestandes als Motivation der Aussteller für diese Vorgehensweise in den Mittelpunkt. Susanne Wittekind stellt im letzten Aufsatz die graphischen Merkmale einiger Kopialbücher, d.h. einerseits den Liber feudorum maior und den Liber feudorum Ceritaniae sowie andererseits die mallorquinischen Capbreus Jakobs II., in den Mittelpunkt (383-417). Ob ihre Ausschmückung tatsächlich derart einzigartig ist, wie die Autorin postuliert, müssten vergleichende Untersuchungen mit anderen Beispielen wie etwa dem Liber instrumentorum des Klosters San Clemente a Casauria (in dem die Funktion der Abbildungen freilich eine andere ist) klären. Jedoch ist die Funktion der Miniaturen in den untersuchten Kopialbüchern zu unterstreichen, die auf deren repräsentative Nutzung hindeuten.

Die Erträge der Beiträge fallen unterschiedlich aus. Während etwa Franz Bornschlegel selbst ein eher ernüchterndes Fazit zieht (was aber den Wert seiner Beobachtungen keineswegs schmälert), legen andere Beiträge ein erhebliches Potential für weitere Untersuchungen offen. Besonders die Einbeziehung außereuropäischer Diplomatik, deren noch stärkere Berücksichtigung künftig wünschenswert wäre, und die literatur- und kunsthistorischen Ansätze erweist sich als wertvoll. Im Vergleich mit nicht-lateinischen Urkundentraditionen könnte unter anderem auch die Fokussierung der Diplomatik in der deutschsprachigen Forschung auf das Mittelalter aufgebrochen werden und die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen hin zum "Aktenzeitalter" berücksichtigt werden. Doch auch die Frage nach der medial differenzierten Nutzung von Urkunden, wozu auch deren Verarbeitung und Darstellung in anderen Quellengattungen zu zählen ist, verspricht - wie Andrea Schindler zeigt - weitere Erträge. An einigen Stellen sind kleinere Fehler zu verzeichnen, wie z.B. das Fehlen einzelner Einträge im Register (wie der beiden Juden Ascher und Aram, S. 38), fehlerhafte Querverweise (398 Anm. 54) oder typographische Irrtümer (auf S. 334 in Anm. 2 fehlt die letzte Zeile); das Layout weist an einigen Stellen unerwartete Umbrüche auf (z.B. auf S. 189) und die Abbildungen sind in einigen Fällen nicht gut zu erkennen (325 Abb. 25). Diese Petitessen können aber den Gesamtertrag des Bandes, der einerseits zu bekannten Phänomenen neue Akzente setzt und andererseits verschiedene neue Ansätze für die Forschung eröffnet, nicht schmälern. Auf diese Weise werden wertvolle methodische Anregungen gegeben, die unbedingt weiterzuverfolgen sind.

Sebastian Roebert