Rezension über:

Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer (Hgg.): Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion (= Seraphim - Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and Its Environs; 9), Tübingen: Mohr Siebeck 2021, XII + 230 S., ISBN 978-3-16-159455-7, EUR 69,00
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Rezension von:
Beatrice Wyss
Fakultät für Theologie, Universität Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Beatrice Wyss: Rezension von: Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer (Hgg.): Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion, Tübingen: Mohr Siebeck 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/36302.html


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Peter Gemeinhardt / Tanja S. Scheer (Hgg.): Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion

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Der Band präsentiert die Ergebnisse einer Tagung, die unter dem Titel "Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion" stattgefunden hat, im Rahmen eines DFG-Sonderforschungsbereiches "Bildung und Religion in Kulturen des Mittelmeerraums und seiner Umwelt von der Antike bis zum Mittelalter und zum klassischen Islam".

Acht Aufsätze von zwei Forscherinnen und sechs Forschern sowie eine Einleitung, Register und Kurzbiographie der Autoren umfasst der Band, alles auf Deutsch. Vertreten sind die Fächer klassische Philologie, Geschichte, Theologie und Archäologie. Der Umfang der Beiträge schwankt zwischen 41 Seiten und 14 Seiten.

Der untersuchte Zeitraum reicht vom Athen klassischer Zeit (5.-4. Jh. v.Chr.) bis in die karolingische Zeit (9. Jh. n.Chr.), geographisch decken die Beiträge den Mittelmeerraum und das karolingische Reich ab. Die Spannbreite ist zeitlich und geographisch recht weit. Als roter Faden dient das titelgebende Thema, das sämtliche Aufsätze in je eigenen Perspektiven behandeln.

Die Einleitung, verfasst von den Herausgebern, enthält neben Definitionen der Begriffe Autorität und Bildung, einer Zusammenfassung der Beiträge und einer knappen Auswertung die Fragestellung: "Wie verhalten sich Prozesse der Zuschreibung, Fixierung und Usurpation von Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion in Religionskulturen von der Antike über die Spätantike bis zum Mittelalter?" (5). Diese allgemeine, übergreifende Problemanzeige konkretisieren die Herausgeber auf folgende sechs Fragen: "1. Welche Autoritätsterminologie ist in den hier behandelten Kulturen zu finden? 2. Welche Funktionen und Ziele von Autorität sind kontextspezifisch erkennbar? 3. Wer sind die Träger von gebildeter religiöser Autorität in den behandelten Kulturen? 4. Wie wird gebildete religiöse Autorität erzeugt? 5. Welches sind die Orte, an denen Autorität, Bildung und Religion ineinandergreifen? 6. In welchen Spannungsfeldern sind Autorisierungsstrategien wirksam?" (5, Kursivierung im Original). Die Vielfalt der Herangehensweisen und Antworten zeigt folgender Überblick.

Tanja S. Scheer, Religiöse Autorität im Klassischen Athen: Formen und Funktionen. Die besondere Verfassung Athens, die Vergabe der Ämter durch das Los und die kurze Amtszeit, verhinderten die Ausbildung eines Expertenstandes und von Expertenwissen im Bereich des Kultes und der Götterverehrung. Autorität gründete sich deshalb anders. Die Althistorikerin unterscheidet zwischen traditionaler, formaler und personaler religiöser Autorität im klassischen Athen.

Peter Kuhlmann, Philosophen - Priester - Bürger: auctoritas und humanitas bei Cicero. Der Latinist untersucht Cicero, genauer den Dialog De natura deorum (Über das Wesen der Götter) als Beispiel für das Spannungsfeld von römischer religio und auctoritas gegenüber griechischen Philosophien.

Reinhard G. Kratz, Vom Text zum Kanon: Die Autorität der Hebräischen Bibel im antiken Judentum. Der Alttestamentler räumt auf mit der Vorstellung, dass das Judentum immer eine Buchreligion gewesen sei; die Autorität der Tora, der Propheten und der Schriften musste sich erst bilden und dies geschah im Rahmen einer pluralen Textüberlieferung: die Autorität der Schrift benötigte lange keinen bis ins Einzelne feststehenden Wortlaut.

Florian Wilk, Strategien der Selbstautorisierung im Neuen Testament. Der Neutestamentler untersucht das Johannesevangelium und den zweiten Petrusbrief. Die unbekannten Autoren reklamieren auf je eigene Weise und mit unterschiedlichem Erfolg für ihre Schrift die Funktion eines hermeneutischen Schlüssels für das rechte Verständnis derjenigen Texte, Ereignisse und Traditionen, auf denen der Christusglaube gründet (110).

Heinz-Günther Nesselrath, Von falscher und von wahrer Autorität: Die charismatischen, religiösen Figuren Alexander von Abonuteichos, Peregrinos Proteus und Apollonios von Tyana im Diskurs der Zweiten Sophistik. Der Gräzist paraphrasiert elegant die Schurkenbiographien, die der Satiriker und Spötter Lukian aus Samosata gegen Alexander und Peregrinos verfasste, sowie das achtbändige panegyrische Monumentalwerk, das der Sophist Philostrat Apollonios widmete. So unterschiedlich die Quellen, so ähnlich die Autoritätskonstruktionen: Bildung, intellektuelle Fähigkeiten, Fleiß und Ausdauer sowie gewinnendes Auftreten verhalfen allen drei Akteuren zu ihrer Autorität.

Ulrike Egelhaaf-Gaiser, Freiheitshelden, Wahrsager und das Gedächtnis der (W)orte: Konkurrierende Autoritäten in Gellius' Attischen Nächten (N.A. 4,5). Der Artikel zeigt anschaulich und spannend, wie eine Notiz zu einem Denkmal eines frührepublikanischen Freiheitshelden eigentlich ein Sprungbrett für Aulus Gellius' Selbstpräsentation als umfassend gebildeter, bilinguer Philologe ist.

Peter Gemeinhardt, Tradition, Kompetenz und Charisma: Streiflichter auf das Spannungsfeld von Autorität und Bildung in spätantiken Religionskulturen. Tradition steht für Augustin, Kompetenz für Johannes Chrysostomos und Charisma für Antonius, den Wüstenmönch.

Steffen Patzold, Autoritäten in Priesterbüchern der Karolingerzeit. Der Autor führt knapp und verständlich ins Thema ein, stellt den Forschungsgegenstand vor und erläutert die Bedeutung dieser Priesterbücher, und zeigt an einem Beispiel, wie mit Autoritäten doch recht frei umgegangen werden kann.

Fazit: Die Zusammenfassung der Beiträge (6-10) ist nützlich für eilige Leser und Leserinnen.

Die Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren sind einerseits nützlich, weil sie die Beiträger wissenschaftlich und geographisch verorten, andererseits sind die neuesten Veröffentlichungen auch schnell veraltet.

Zielpublikum sind Wissenschaftler und fortgeschrittene Studierende der beteiligten Disziplinen.

Eine grundsätzliche Bemerkung sei erlaubt: Wer wie die Rezensentin selber intensiv im Bereich Bildung und Religion forscht, wird keine Probleme haben, die Breite der verhandelten Themen zu verstehen. Wer diesen Hintergrund nicht hat, mag sich über die Breite und Weite wundern. Hier wäre ein Hinweis in der Einleitung hilfreich gewesen: warum Bildung und Religion? Warum diese Auswahl von Themen? Warum fehlt ein Beispiel aus dem Islam? (Der Sonderforschungsbereich umfasst im Titel den frühen Islam).

Während die Kernbegriffe "Bildung" und "Autorität" in der Einleitung kurz definiert werden, fehlt eine Definition von "Religion". Gerade in diesem Bereich unterscheiden sich die behandelten Kulturen fundamental, zudem bleibt "Religion" innerhalb einer Gesellschaft über Jahrhunderte nicht gleich, die pagane Götterverehrung verändert sich, im Judentum und Christentum gibt es verschiedene Strömungen, die Reinhard Katz und Peter Gemeinhardt auch gut skizzieren. Das ist nun keine Kritik an der interdisziplinären Anlage des Bandes, sondern eine Einladung, Anliegen und Auswahl für Außenstehende besser zu begründen.

Die Beiträge sind verständlich, klar aufgebaut und lohnen die Lektüre. Sie werfen Schlaglichter auf verschiedene Formen der Autoritätskonstruktion in unterschiedlichen sozialen Kontexten und der Rolle von Bildung und "Religion" in diesen Autoritätszuschreibungen.

Beatrice Wyss