Hans-Hermann Klare: Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte, Berlin: Aufbau-Verlag 2022, 471 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-351-03896-0, EUR 28,00
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"Der prominenteste Jude in Deutschland nach dem Krieg", so bezeichnete Hans-Hermann Klare, Autor und Journalist, Philipp Auerbach. Verwunderlich also, dass letzterer in der zeitgeschichtlichen Forschung höchstens als Nebenakteur der frühen deutschen Nachkriegshistorie in Erscheinung getreten ist. Einschlägige Publikationen über Auerbach interessierten sich meistens für seine Rolle in der sogenannten Auerbach-Affäre. Die 1951 gegen Auerbach und das von ihm geleitete bayerische Landesentschädigungsamt erhobenen Korruptionsvorwürfe führten zweifelsohne eine der kontroversesten Rechtsstreitigkeiten der Geschichte der jungen Bundesrepublik herbei. Dass mit Hannes Ludyga ein Rechtswissenschaftler das bisher detaillierteste Porträt [1] über den deutschen Juden vorgelegt hatte, wirkt daher naheliegend. Nun hat mit "Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte" Hans Hermann Klare eine längst überfällige Biografie verfasst. Das Ziel des Autors wird bereits am Untertitel der Studie deutlich: Anhand von Auerbachs Lebensgeschichte möchte Klare das populär-tradierte Konzept der "Stunde Null" mit Kontinuitätslinien konfrontieren, die weit über das Ende des nationalsozialistischen Regimes hinausragten.
1906 in Hamburg geboren, wuchs Auerbach in einem jüdisch-orthodox geprägten, großbürgerlichen Umfeld auf. In der Weimarer Republik schloss er sich der linksliberal-bürgerlichen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold an. Der bruchstückhaften Quellenüberlieferung aus dieser Zeit ist es geschuldet, dass der Leser nur selten Greifbares über Auerbachs Rolle in den politischen Wirren der jungen Republik erfährt. Dennoch stellt Klare seinen Protagonisten plausibel als politisch engagierten jungen Mann heraus, der "zeit seines Lebens [...] ein aktiver Teilnehmer an dem [war], was geschah" (46). Angesichts der politischen Repression durch die Nationalsozialisten musste Auerbach 1934 sein Heimatland in Richtung Antwerpen verlassen. In Belgien betätigte er sich zunächst erfolgreich als Geschäftsmann, gründete eine eigene Firma, handelte mit Reagenzien und belieferte die linke spanische Volksfront-Regierung mit waffenfähigem Material im Kampf gegen die Putschisten. Nach dem deutschen Überfall auf Belgien im Mai 1940 entkam er nur knapp dem Zugriff der Besatzer und floh, zusammen mit Frau und Kind, in den sogenannten unbesetzten Teil Frankreichs. Im Sommer 1942 lieferte das französische Vichy-Regime den Juden und politischen Dissidenten Auerbach an die Nationalsozialisten aus.
Klare bemüht sich merklich darum, den Protagonisten als selbstbewussten Akteur, gar als Überlebenskünstler, darzustellen. Während seiner Gestapo-Haft in Berlin konnte er seine Sprachkenntnisse einsetzen, um den Beamten als Dolmetscher zu assistieren. Als die Gestapo Auerbach 1944 in das Stammlager Auschwitz verschleppen ließ, gelang es ihm selbst dort, "das Beste aus der Lage zu machen" (172). Laut eigener Aussage arbeitete er in Auschwitz als Chemiker, war verantwortlich für die Fett- und Seifenproduktion und gelangte so unter den Häftlingen in eine vergleichbar vorteilhafte Position. Umsichtig ordnet Klare Auerbachs Handeln in der "Grauzone" [2] ein und zeigt, wie schmal der Grat zwischen Überlebenskampf und Kollaboration in Auschwitz und Buchenwald verlief, wo Auerbach im April 1945 befreit wurde. Abgesehen davon stechen in diesem Teil der Studie einige inhaltliche Ungenauigkeiten ins Auge, die jedoch höchstens am kontextuellen Gebilde und weniger am Gesamtbild der Erzählung zerren.
In den nächsten Abschnitten führt der Autor die Leserinnen und Leser zum Kern seiner Argumentation. Gleich nach der Befreiung engagierte sich Auerbach in den westlichen Besatzungszonen, in Düsseldorf im Amte eines Oberregierungsrates, unerbittlich für die Überlebenden der Konzentrationslager und jüdischen Displaced Persons (DP). Nach seiner Entlassung in Düsseldorf lockte die bayerische sozialdemokratische Landesregierung den deutschen Juden als Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte nach München. Klare legt offen, welche Differenzen in Bayern unter US-amerikanischer Besatzung zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden, Besiegten und Überlebenden, fortdauerten oder neu auftraten. Er verortet Auerbach und das von ihm unter chaotischen Umständen geleitete Landesentschädigungsamt als Akteure in einer von Misstrauen gezeichneten Gemengelage, in der sich CSU-Politiker unverhohlen antisemitisch äußerten und es in einigen bayerischen Ortschaften zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen DPs und nichtjüdischen Deutschen kam. Auerbach, der sich nicht scheute, als Advokat und Stimme der in den zahlreichen bayerischen DP-Camps untergebrachten Überlebenden des Holocaust aufzutreten und von der Öffentlichkeit auch als solcher wahrgenommen wurde, geriet so im Laufe der späten 1940er Jahre in den Fokus antisemitischer Anfeindungen. Bedauerlich ist, dass Klare an dieser Stelle den heftig ausgetragenen Konflikt zwischen Auerbach und dem Redakteur der Landsberger Nachrichten Paul Winkelmayer um die Anzahl der im letzten Kriegsjahr im Außenlagerkomplex Kaufering ermordeten Jüdinnen und Juden nicht zur Erörterung seiner Thesen berücksichtigt hat.
Der Konflikt zwischen Auerbach und seinen Gegnern erreichte im Jahr 1951 seinen Höhepunkt. Der Staatskommissar und die von ihm geleitete Behörde sollen, laut dem Vorwurf der ermittelnden Münchner Staatsanwaltschaft, systematisch unrechtmäßig Entschädigungsleistungen genehmigt und Gelder veruntreut haben. Klare belegt jedoch mithilfe der Analyse mehrerer aufschlussreicher Quellen, dass Auerbach der bayerischen und bundesdeutschen Justiz bereits seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge war und die Ermittlungen gegen ihn deshalb vor allem politisch motiviert waren. Der Autor versucht dabei allerdings nicht, den Protagonisten zu rehabilitieren, sondern betrachtet die Positionen der Anklage aus einer objektiven Perspektive und ordnet Auerbach stets kritisch ein. Das ist eine der größten Stärken der Studie. Aufgrund dieser sorgfältigen Einschätzung ist Klares Urteil über die groß angelegte Kampagne gegen Auerbach, die hauptsächlich von "tiefem Misstrauen zwischen nichtjüdischen Deutschen und Juden" (359) bestimmt war, umso bedeutungsvoller.
Der Verfasser unterstreicht, dass der im April 1952 begonnene Prozess gegen Auerbach, den nicht nur Zeitgenossen, sondern auch der Beschuldigte selbst mit der Dreyfus-Affäre verglichen, einem politischen Schauprozess glich. Beinahe meisterhaft - und sicherlich begünstigt durch die Quellenlage - führt der Autor durch die langwierigen Verhandlungen in denen sich Auerbach, trotz mittlerweile schwerer Erkrankung, häufig eloquent und energisch selbst verteidigte. Anhand plastischer Beispiele belegt Klare den problembehafteten Charakter des Prozesses, der seiner Auffassung nach "die Bruchstellen des neuen Deutschlands definierte" (378). So waren nicht nur sämtliche am Prozess beteiligten Richter, sondern ebenso der entscheidende dem Gericht vorgeführte Kronzeuge schwer NS-vorbelastet. Dass das Gericht Auerbach, wenn auch nicht in allen Anklagepunkten, schuldig sprach und zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten und einer hohen Geldstrafe verurteilte, sei dem Autor zufolge unter diesen Bedingungen unausweichlich gewesen. Getreu seiner Argumentation resümiert er treffsicher: "Einen wie Auerbach freizusprechen [...] hätte den Bruch mit der Vergangenheit bedeutet. Genau den wollte die Mehrheit aber nicht" (399). Am 16. August 1952 nahm sich der jüdische Staatskommissar das Leben.
Klare präsentiert Auerbach glaubhaft über mehrere Dekaden hinweg als schillernden, tatkräftigen, aber auch polarisierenden und letztlich traumatisierten Charakter. Gekonnt und unter Berücksichtigung zahlreicher Archivbestände zeigt der Autor, inwiefern der Antisemitismus das Ende des NS-Staates überdauerte und, dass Auerbach als Holocaustüberlebender und "prominentester Jude" im Nachkriegsdeutschland an diesen Kontinuitäten auf tragische Weise zugrunde ging. Mit seiner Biografie schließt sich Klare der Auffassung renommierter Historiker wie Michael Brenner an, welche die "Stunde Null" in ihren Werken als "Mythos" [3] ablehnten. Wenn auch der Verfasser mit seiner Biografie kein historiografisches Neuland betritt, leistet er mit dieser bisher detailliertesten, empathischen Studie über Philipp Auerbach doch einen ernstzunehmenden Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland nach dem Holocaust. Ebenfalls zu würdigen ist, dass Klare (im Gegensatz zu anderen einschlägigen Studien) ein kurzweilig verfasstes und zugängliches Werk vorlegt. So bleibt zu hoffen, dass die jüngst erschienene Biografie dazu beiträgt, Auerbachs Position als zentrale Figur der deutschen Zeitgeschichte im heutigen historischen Gedächtnis zu verankern.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hannes Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952). "Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte", Berlin 2005.
[2] Vgl. Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990, 33-68.
[3] Vgl. Michael Brenner: Wider den Mythos der "Stunde Null" - Kontinuitäten im innerjüdischen Bewußtsein und deutsch-jüdischen Verhältnis nach 1945, in: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte (1992), 155-181.
Johannes Meerwald