Natalie Jayne Goodison: Introducing the Medieval Swan, Cardiff: University of Wales Press 2022, 197 S., 11 Farb-, 18 s/w-Abb. , ISBN 978-1-78683-839-1, GBP 11,99
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Wer würde nicht sofort beim Anblick eines still auf einem Teich dahinschwebenden Schwans auf viele Gedanken kommen, ganz gleich, ob man einfach nur seine Schönheit bewundert oder ob man kulturhistorische Reflexionen anstellt. Diese könnten sich auf die neoromantische Burg Neuschwanstein bei Füssen, auf Tschaikowskis Ballett "Schwanensee" (1875) oder auf die Redewendung "Schwanengesang" für das Abschiedslied vor dem Tod beziehen. In der Tat besitzt der Schwan ungemein viele symbolische Bedeutungen und einen sehr beachtlichen historischen Stammbaum, der es uns erlaubt, schnell von der Gegenwart bis in die Antike zurück zu schauen, in der der Schwan bereits hohes Ansehen genoss und vielfach thematisiert wurde. Allerdings trifft es keineswegs zu, dass der Schwan besonders schön singen würde. Tritt man ihm zu nahe, geifert er vielmehr höchst aggressiv und bricht sowieso eigentlich niemals in einen angenehmen Gesang aus (es kommt auf die Gattung an). Um den Schwan ranken sich also viele Mythen, die durchaus geschichtsträchtig sind, auch wenn sie sich oftmals mit der biologischen Realität im Konflikt befinden.
In ihrer wunderbaren, kurz gehaltenen, aber sehr informativen Studie zum mittelalterlichen Schwan präsentiert Natalie Jayne Goodison, Professorin für Englisch an der Durham University, UK, praktisch fast alles, was sich überhaupt aus den vormodernen Quellen zu diesem Vogel zusammentragen lässt (es fehlt aber: der Schwanenorden). Sie analysiert knapp und bündig, zitiert ausführlich mit jeweiligen Übersetzungen, und unterlegt dies alles sehr befriedigend mit der relevanten Forschung, die aber nur in den Anmerkungen am Ende des Bandes auftaucht, während die Primärtexte die Szene beherrschen.
In fünf Kapiteln betrachtet sie den Schwan aus den folgenden Perspektiven: 1. der Schwan in der Naturgeschichte (dies auch mit guten Ausblicken auf die falsche Vorstellung vom singenden Schwan); 2. der Schwan in der Literatur; 3. der Schwan als motivgebender Vogel in der höfischen Welt; 4. der Schwan als Lebensmittel, seine Aufzucht und Pflege und relevante Gesetze, die den Besitz von Schwänen schützten, und zuletzt, 5., das kulturelle Nachleben des mittelalterlichen Schwans. Daran schließen sich die Anmerkungen, eine Bibliographie, eine Liste von Webseiten, Quellenangaben zu den Illustrationen und sogar noch ein zufriedenstellender Index an. Ich hatte vorab die Möglichkeit, das Buch als PDF einzusehen, aber dort waren die farbigen Abbildungen nicht mit aufgenommen. Diese elf farbigen Abbildungen erweisen sich aber als sehr eindrucksvoll, aussagekräftig und ausgesprochen qualitätsvoll. E-Books sind eben doch nicht dem gedruckten Buch ebenbürtig.
Weil die klassischen Autoren dem singenden Schwan hohe Bewunderung entgegenbrachten - so schon Äsop in seinen Fabeln - , übernahmen die mittelalterlichen, angefangen mit Isidor von Sevilla, diese Einstellung und trugen damit dazu bei, diesen Mythos unablässig weiter zu entwickeln. Andererseits identifizierte man den Schwan wegen seines gekrümmten Halses mit der Sünde der Eitelkeit (Hrabanus Maurus), allegorisierte ihn also, wie es später vor allem in den Bestiarien zum Ausdruck kommen sollte (z.B. bei Hugo de Folieto [auch Hugo von Fouilloy] oder Jacques de Vitry), was von vornherein eine Verbindung mit Christus verhinderte. Dafür war es oftmals möglich, den Schwan als eine Verkörperung der menschlichen Seele anzusehen.
Naturwissenschaftler wie Albertus Magnus lieferten aber bereits sehr genaue Beschreibungen des Schwans, die mit den heutigen weitgehend übereinstimmen, was freilich trotzdem nicht verhinderte, dass die falsche Vorstellung vom singenden Schwan unablässig weitergereicht wurde und auch starke kirchliche Bedeutung annahm.
Der literarhistorische Überblick ist beeindruckend und scheint keine lacunae zurückgelassen zu haben, wirft die Autorin doch ihr Netz weit über den Kontinent hinweg und hat auch altnordische, anglonormannische und mittelhochdeutsche Literatur berücksichtigt. Die Untersuchung bleibt zwar meist recht oberflächlich, aber die Materialsammlung an sich ist doch sehr willkommen. Genauso umfassend hat Goodison auch Belege für den Schwan in der höfischen Kultur vereinigt, ob aus der Kunstgeschichte oder der Kulinarik. Der Schwan erscheint genauso in der Heraldik wie in Skulpturen und Handschriftenilluminationen. Kein Wunder also, dass der Schwan als Tier sehr gefragt war, weswegen auch genaue Gesetze erlassen wurden, um Schwanenherden zu schützen.
Der sehr anregende Band schließt mit einem Kapitel zur Rezeptionsgeschichte, führt uns also insbesondere ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus, wie der Hinweis auf Tolkiens Lord of the Rings bestätigt. Zu Recht schließt die Autorin mit einem Hinweis auf das Markenzeichen mit dem Schwan für britische Pubs. Das Mittelalter lebt weiterhin fort und ist mitten unter uns, wie die Geschichte des Schwans eindrucksvoll vor Augen führt.
Albrecht Classen