Peer Frieß / Dietmar Schiersner (Hgg.): Aus Sorge um die Gesundheit. Geschichte der Medizin in der Region (= Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen; Bd. 14), Konstanz: UVK 2021, 442 S., 2 Kt., 27 Abb., ISBN 978-3-7398-3176-3, EUR 49,00
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Dietmar Schiersner / Hedwig Röckelein (Hgg.): Weltliche Herrschaft in geistlicher Hand. Die Germania Sacra im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2018
Dietmar Schiersner: Politik, Konfession und Kommunikation. Studien zur katholischen Konfessionalisierung der Markgrafschaft Burgau 1550-1650, Berlin: Akademie Verlag 2005
Dietmar Schiersner / Volker Trugenberger / Wolfgang Zimmermann (Hgg.): Adelige Damenstifte Oberschwabens in der Frühen Neuzeit. Selbstverständnis, Spielräume, Alltag, Stuttgart: W. Kohlhammer 2011
Der von Peer Frieß und Dietmar Schiersner herausgegebene Sammelband umfasst neben einer Einleitung 14 Beiträge, die auf die 17. Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte zurückgehen. Im Vorwort wird thematisiert, dass im November 2019 nicht absehbar war, welche große Aufmerksamkeit das gewählte Tagungsthema im Nachgang erfahren sollte. Doch ist die "Sorge um die Gesundheit" kein neues Phänomen und unabhängig von Pandemiezusammenhängen sollte die Medizingeschichte immer wieder hinsichtlich der aktuellen Herausforderungen des Gesundheitssystems berücksichtigt werden.
Das Ziel der Tagung war es, "verschiedene Ansätze integrativ zu verbinden" und "die Entstehung und Entwicklung einer medikalen Region näher zu untersuchen" (15). Mit Fokus auf das Beispiel Schwabens und seiner Nachbarn präsentieren die einzelnen Beiträge ein buntes Kaleidoskop an Themen und Herangehensweisen. Der Band gliedert sich in drei Hauptteile. Unter der Überschrift "Städtisches Gesundheitswesen" befassen sich sechs Aufsätze mit den Themen Frömmigkeit und Krankheit (Stefan Dieter), Reaktionen auf die Pest (Patrick Sturm), Hospitälern in der Vormoderne (Annemarie Kinzelbach), Rezepten zur Selbstmedikation (Michael Baumann), einem städtischen Gesundheitsmarkt (Peer Frieß) sowie der medizinischen Tätigkeit von Scharfrichtern (Wolfgang Scheffknecht). "Medizin auf dem Land" wird in der zweiten Sektion mit fünf Beiträgen zur gesundheitlichen Versorgung christlich-jüdischer Gemeinden (Claudia Ried), dem Entstehen eines Kurorts (Sarah Waltenberger) sowie Aspekten der Betreuung psychisch Kranker in Anstalten (Ralph Höger und Maria Christina Müller-Hornuf) und durch einen Landarzt (Elena Taddei) beschrieben. Den Abschluss machen "Übergreifende Gesundheitspolitiken", wobei ländliche Badestuben (Christine Rogler), die Einführung der Pockenschutzimpfung (Wolfgang Petz) und die Frage von Stillen und Säuglingssterblichkeit (Christine Werkstetter) dargestellt werden. Bekannte Felder der Medizingeschichte, wie Hospitäler, Impfung oder der "medizinische Markt" werden also mit Themen kombiniert, denen sich die Forschung erst später zugewandt hat, wie Fragen der Selbstmedikation oder die Praxis von Scharfrichtern beziehungsweise medizinischen Laien.
Die drei Sektionen werden als "raumsensibler Zugriff" (15) verstanden. Bei der Zuordnung der einzelnen Beiträge zu diesen Sektionen fragt man sich jedoch, wie tragfähig dieses Konzept ist. Wäre das Thema Selbstmedikation nicht eher dem ländlichen Raum zuzuordnen gewesen? Und warum befassen sich drei der fünf Aufsätze zu "Medizin auf dem Land" mit psychiatrischen Einrichtungen beziehungsweise dem Umgang mit solchen Erkrankungen? Gerade die Praxis des Landarztes Ottenthal bietet in ihrer Gesamtheit mehr Informationen über die Versorgung einer ländlichen Bevölkerung im Tiroler Ahrntal als der hier gewählte Ausschnitt. [1] So scheint das Thema Psychiatrie überrepräsentiert. Demgegenüber vermisst man einen Beitrag zu Apothekern, Wundärzten oder Krankenkassen. Hier hätte der ursprünglich auf der Tagung gehaltene Vortrag zu medikalem Handeln in schwäbischen Damenstiften, der nicht verschriftlicht wurde, eine weitere Perspektive eröffnet. [2]
Wie der Einleitung aber zu entnehmen ist, sehen die Herausgeber die eigene Herangehensweise durchaus kritisch, wenn sie eingestehen, dass "das aus organisatorischen Gründen [...] gewählte räumliche Ordnungsprinzip der historischen Wirklichkeit nur unzureichend entspricht" (19). Vielmehr wird bezugnehmend auf Ergebnisse der Schlussdiskussion bemerkt, dass "urbane Zentren" zwar "Taktgeber der Medikalisierung und damit prägend für die Ausformung einer regionalen medikalen Kultur und Struktur" waren, dies jedoch nicht "ohne Rückkoppelung und Verflechtung mit dem Umland geschah" (19).
Die einzelnen Beiträge rezipieren den aktuellen Forschungsstand zu ihren Themen und stellen angewandte Methode sowie herangezogene Quellen dar. Auch wenn in den umfangreichen Texten bisweilen Doppelungen aufscheinen, eignen sie sich sehr gut als einführende Lektüre und veranschaulichen die Anwendung von Konzepten der Medizingeschichte gut verständlich an lokalen Beispielen. Gerade für Studierende können die Beiträge daher Anregungen für eigene Studienarbeiten sein beziehungsweise Hinweise geben, mit welchen örtlichen Quellen eine solche bestritten werden kann. So wird im Beitrag über das Bäderwesen darauf hingewiesen, dass sich insbesondere Unterlagen der Gerichtsbarkeit dafür eignen, etwas über die wenig bekannte alltägliche Praxis in diesen örtlich wichtigen Gesundheitseinrichtungen herauszufinden. Hier besteht eindeutig noch Forschungsbedarf. Ähnliches gilt für Fragen der Selbstmedikation, weist der vorliegende Beitrag doch nach, dass die praktische Anwendung der Rezepte des Buntschriftstellers Martin Zeiller eine eher untergeordnete Rolle spielte, obwohl die Bestandteile der Rezepturen in Apotheken zu kaufen waren. Eine Untersuchung von historischen Gesundheitsratgebern hätte an dieser Stelle weitere Einblicke versprochen.
Bedingt durch den gewählten Fokus auf die Region stellen die meisten Beiträge die Perspektive "von oben" dar. Die Sichtweisen und Handlungen einzelner Betroffener sind demgegenüber weniger im Blick. Besonders bei dem Beitrag zu der Einführung der Pockenschutzimpfung wird dies deutlich, da dieser im Rahmen der Gesundheitspolitik eine "integrierende Wirkung für das junge Staatswesen" zugeschrieben wird. So wird das eingangs formulierte Anliegen, herauszufinden, "was die Menschen in einer Region aus Sorge um ihre Gesundheit unternahmen, um sich vor Krankheit und Tod zu schützen" (15), nur teilweise erfüllt. Gleichwohl scheint der Zusammenhang zwischen Vertrauen und Zutrauen zu einer Behandlungsperson oder deren Therapie immer wieder auf. Explizit ist dies in dem Beitrag über die Badestuben, wo herausgestellt wird, dass das "interpersonelle Vertrauen" eine größere Rolle für die Auswahl eines Heilkundigen spielte als eine "Lizenz zum Praktizieren" (365). Bemerkenswert ist ferner, dass in vielen Beiträgen die Auseinandersetzungen um die Betreuung von Erkrankten eine zentrale Rolle spielten: Zugelassene oder lizenzierte Medizinalpersonen wehrten sich stets gegen solche, die eben nicht über eine derartige Qualifikation verfügten und die ihnen Konkurrenz zu machen drohten. Ob eine Tätigkeit akzeptiert wurde, hing dabei sehr häufig von der ausgeübten Praxis und deren Notwendigkeit ab, wie die lange Duldung medizinischer Tätigkeit durch Scharfrichter und Bader belegt, oder von Fragen einer ärztlichen Vertretung, wie die Aneignung der Kneippschen Kur zeigt. Zugleich offenbart der Band Strukturprobleme, die heute noch bemerkbar sind. Dies betrifft den Personalmangel, besonders in medizinischen Einrichtungen, oder die Versorgung ländlicher Gebiete. All dies zeigt, dass bei der "Sorge um die Gesundheit" und der Versorgung von Betroffenen Faktoren wie Macht, Prestige und Einkommen ebenso eine Rolle spielen und diese sich auf die Akzeptanz einer ausgeübten Praxis und einer Behandlungsmethode auswirken. Eine Erkenntnis, die auch für die heutige Situation wegweisend ist, in der allzu oft die medizinische Tätigkeit und Fürsorge auf eine naturwissenschaftlich verstandene, evidenzbasierte Medizin verengt wird. So trägt der Sammelband dazu bei, medizinhistorisches Wissen am Beispiel der Region zu vermitteln.
Anmerkungen:
[1] Elena Taddei: Franz von Ottenthal (1818-1899). Arzt und Tiroler Landtagsabgeordneter, Wien / Köln / Weimar 2010.
[2] Dietmar Schiersner: Aus Sorge um die Gesundheit. Geschichte der Medizin in der Region. 17. Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte, in: H-Soz-Kult, 10.10.2019, http://www.hsozkult.de/event/id/event-91191.
Marion Baschin