Laurent Cesalli / Ruedi Imbach / Alain de Libera u.a. (Hgg.): Die Philosophie des Mittelalters. Band 3. 12. Jahrhundert (= Grundriss der Geschichte der Philosophie; Bd. 3), Basel: Schwabe 2021, 715 S., ISBN 978-3-7965-2625-1, EUR 420,00
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Nachdem 2017 der vierte Band der "Philosophie des Mittelalters" des neuen Überwegs erschienen war (das 13. Jahrhundert umfassend), folgte 2019 der erste Band zu Byzanz und dem Judentum und nun der dritte Band zum 12. Jahrhundert. Damit ist also klar, dass der zweite Band das gesamte Frühmittelalter bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts abzudecken hat. Es sei bereits vorab festgehalten, dass, wenn die Herausgeber es im Vorwort dem Urteil der Leserschaft anheimstellen, "ob sich der große Arbeitsaufwand und Einsatz gelohnt hat und ob die lange Verzögerung der Publikation gerechtfertigt ist" (XIX), dies zumindest von dem Teil der Leserschaft, dem sich der Rezensent zugehörig fühlt, eindeutig zu bejahen ist. Wie bereits die anderen, bisher erschienenen Bände dieses komplett überarbeiteten Überwegs wird auch dieser Band, genauso wie die Bände des alten Überwegs, zu einem Standardwerk der philosophischen Historiographie werden.
Diese sowohl in ihrem Umfang wie in der Tiefe ihrer Analysen einzigartige Darstellung der Philosophie des 12. Jahrhunderts ist das kollektive Werk von über 30 Autorinnen und Autoren. Entsprechend den formalen und strukturellen Richtlinien des 'Grundriss der Geschichte der Philosophie' gliedert sich das Werk in drei Teile. Der erste Teil ist den historischen und intellektuellen Voraussetzungen gewidmet; diese Voraussetzungen umfassen sowohl den historischen Kontext wie auch die Orte, also Klöster, Kathedralschulen und Höfe, an denen das Geistesleben des 12. Jahrhunderts stattfindet. Ebenso werden die Subjekte dieses Geisteslebens wie auch die Formen, in denen es zum Ausdruck kommt und entwickelt wird, in den Blick genommen. Unter den literarischen Gattungen kommt hier der Dialog etwas zu kurz, erlebt doch gerade das fiktive Gespräch im 12. Jahrhundert eine gewisse Blüte, die kaum thematisiert wird. So hätte auch die Untergruppe der sogenannten Religionsdialoge im gesamten Band eine größere Aufmerksamkeit verdient, gerade wegen der ambivalenten Rolle, die die Vernunft bei der vermeintlichen Überzeugung bzw. Bekehrung des Gesprächspartners spielt. Ein wirkliches Defizit ist diese mangelnde Aufmerksamkeit jedoch nicht, stellt sie doch eher eine zukünftige Perspektive der Erforschung des 12. Jahrhunderts dar, als dass sie den Stand der Forschung wiedergäbe.
Besonders hervorzuheben ist die Idee, diesem ersten Teil einen Abschnitt über die ideale Bibliothek einzugliedern. "Darin werden jene Texte zusammengestellt und untersucht, die den Denkern des 12. Jahrhunderts tatsächlich zur Verfügung standen - eine Bibliothek also, die nur in einem gewissen Sinne 'ideal' ist, nämlich in dem Sinne, dass sie als physisches Ganzes nirgends existiert hat; als Corpus hingegen hat sie nichts Ideales an sich, weil in ihr die im 12. Jahrhundert bekannten und studierten Texte versammelt sind" (XXIII).
Die historisch-topographische Darstellung des zweiten Teils unterteilt die Autoren des 12. Jahrhunderts in zwei große Gruppen, "nämlich jene, die zu einer gesamteuropäischen Institution gehören, und jene, die nach ihrem bestbezeugten geographischen Wirkungsort einzuordnen sind" (XXIV). Einerseits werden die Autoren also nach ihrer Ordenszugehörigkeit behandelt: den Benediktinern, Zisterziensern, Kartäusern, Augustiner-Chorherren und Prämonstratensern sind je eigene Paragraphen gewidmet, ebenso Joachim von Fiore und den sogenannten Viktorinern. Andererseits werden die ordensunabhängigen Autoren nach der Region, in der sie hauptsächlich gewirkt haben, behandelt. Dementsprechend handelt je ein Kapitel von Frankreich (nach Kirchenprovinzen unterteilt), dem Imperium nördlich und südlich der Alpen, dem Patrimonium Petri, England, dem Königreich Sizilien und der Iberischen Halbinsel. Abgerundet wird dieser zweite Teil von einem Kapitel zu den anonymen und 'atopischen' Texten, hier werden so bedeutende Werke wie Liber de causis oder Liber XXIV philosophorum ausgesprochen instruktiv dargestellt.
Der dritte Teil befasst sich mit dem "Feld der Philosophien"; einleitend geht es um das Verständnis von Philosophie, wie es sich im 12. Jahrhundert herausbildet und besonders in den Wissenschaftseinteilungen zu erkennen gibt. Ein ausführliches Kapitel ist der Philosophie der Sprache gewidmet, wobei es hier nicht nur um die Logik im engeren Sinne geht, sondern vor allem auch um Grammatik und Semantik. Je ein weiteres Kapitel befasst sich mit der praktischen und theoretischen Philosophie, wobei die theoretische Philosophie unter sich sowohl Physica wie Mathematica als auch Ontologie und Metaphysik begreift. Unter der praktischen Philosophie findet sich auch ein eigener Paragraph zu dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie den politischen Theorien des 12. Jahrhunderts. Ein abschließendes Kapitel hat die Sacra Doctrina zum Thema, also biblischer Schriftsinn und wissenschaftliche Theologie sowie das Entstehen der ersten Summen und Kommentare zu den Sentenzen. Abgerundet werden die beiden Teilbände durch ein Sachregister, welches etwas ausführlicher hätte ausfallen dürfen, so findet sich beispielsweise kein Eintrag 'Materialismus', ein Namensregister und ein Register der anonymen Schriften.
Ein gelungener Band, der sowohl einen Meilenstein setzt, als auch eine bereits sehr detaillierte topographische Karte zur Erforschung des 12. Jahrhunderts bereitstellt.
Henrik Wels