Alicia Scarcez (éd.): L'antiphonaire cistercien primitif d'après les sources musicales de 1136/1140. Le premier chant de Cîteaux retrouvé (= Spicilegium Friburgenese; Bd. 47), Münster: Aschendorff 2020, 855 S., ISBN 978-3-402-13636-2, EUR 99,00
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Nathalie Bonvalot / Romain Joulia / Gérard Moyse et al.: L'abbaye de Bellevaux. Neuvième centenaire 1119-2019. Fondation et rayonnement d'une abbaye cistercienne. Volume I et II, Besançon: Presses Universitaires de Franche-Comté 2022
David Wallace (ed.): Europe. A Literary History, 1348-1418, Oxford: Oxford University Press 2016
Gwilym Dodd / Anthony Musson (eds.): The Reign of Edward II. New Perspectives, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2006
Die belgische Musikwissenschaftlerin Alicia Scarcez ist spätestens seit ihrer Analyse der liturgischen Handschriften der Abtei Fille-Dieu als Kennerin des zisterziensischen Choralgesangs bestens ausgewiesen. [1] In der vorliegenden Arbeit baut sie aber nicht nur auf ihren eigenen Forschungen auf, sondern greift auf zwei in derselben Reihe erschienene Publikationen zurück, zum einen die vom hochgelehrten amerikanischen Trappisten Chrysogonus Waddell besorgte Edition des ältesten Zisterzienserbreviers, zum anderen auf die von Claire Maître vorgelegte Edition eines Zisterzienserbreviers aus Troyes. [2]
Die in Cîteaux praktizierte Liturgie durchlief in den ersten 50 Jahren ihres Bestehens drei Phasen: hatte man im ersten Jahrzehnt faute de mieux noch auf die in Molesme (der Abtei, aus der die Gründerväter von Cîteaux stammten) praktizierte Liturgie zurückgegriffen, gab man diese unter dem Einfluss von Abt Stephen Harding (1108-1134) auf und orientierte sich neu an der in Metz gültigen liturgischen Praxis. Diese Form, von der man fälschlich glaubte, sie gehe auf keinen Geringeren als Gregor den Großen zurück, wurde wiederum von Bernhard von Clairvaux in den 1140er Jahren einer tiefgreifenden Revision unterzogen. Diese liturgische Findungsphase verlief alles andere als konfliktfrei.
Scarcez legt nun die kritische Edition eines Repertoires an Antiphonen, Responsorien und weiteren im Offizium verwendeten versiculi vor, das eine leicht abweichende Form von demjenigen aufweist, das seit 1132 als Ergebnis der von Stephen Harding verantworteten Neuordnung das liturgische Leben des jungen Zisterzienserordens bestimmt hatte. Entstanden nach dem Tod Hardings 1134, abgeschlossen aber vor der Reform Bernhards von Clairvaux (kurz nach 1143) werden hier zisterziensische Melodien überliefert: Restituiert wird der erste, der "primitive" Zisterziensergesang, der bis zum jetzigen Zeitpunkt völlig unbekannt war, ("les mélodies dans leur presque totalité restaient jusqu'à ce jour inaccessibles", LVI) und als musikalisches Pendant zum von Waddell edierten Brevier zu begreifen ist.
Die Restitution des frühen ("primitiven") zisterziensischen Antiphonars stützt sich maßgeblich auf die im Antiphonar 12 A-B der Abtei Notre-Dame du Sacré-Coeur von Westmalle enthaltenen originalen Notationen. [3] Kollationiert wurde das Ganze dann mit dem Antiphonar 6 der Abtei von Tamié und einigen Fragmenten aus Fille-Dieu (mss FiD 1/2) und der Vatikanischen Bibliothek (Einbandblätter zu mss Pal. lat. 559/562). Da das aus dem Vatikan stammende Quellenmaterial nahezu unbekannt und von der Autorin selbst zuvor noch nicht in anderen Publikationen untersucht worden ist, wird ihm hier besondere Aufmerksamkeit zuteil (Faksimiles finden sich am Ende des Bandes). Insbesondere das in einem Einbanddeckel einer Zweitverwertung zugeführte liturgische Fragment aus dem Vatikan ist von enormer Bedeutung, weil "unique au monde" (LVII). Es handelt sich um ein Fragment mit Noten, die eine melodische Vorstellung von den unter Stephen Harding gebräuchlichen Antiphonen vermitteln, mit so charakteristischen Besonderheiten wie etwa den kleinen Terzen, die unter Bernhard durch Sekunden ersetzt werden sollten.
Die Kollationierung von Ordo und weiteren lateinischen Texten des frühen zisterziensischen Antiphonars mit denjenigen des Breviers von 1132 erweist eine signifikante Weiterentwicklung, die von der liturgischen Vitalität der Ordensanfänge zeugt, wo man damit beschäftigt war, eine sich von den Benediktinern abhebende, eigene Ordensidentität zu schaffen, ohne gleichzeitig die gemeinsamen Ursprünge zu verleugnen.
Der musikalischen Edition vorgeschaltet ist eine umfangreiche Analyse des historischen Kontextes und der Besonderheiten des frühen zisterziensischen Antiphonars. Kurz skizziert wird die Stellung von Cîteaux im monastischen Konzert des 11. und 12. Jahrhunderts. Dabei wird insbesondere auf das "zisterziensische Ideal" abgehoben, das sich eben nicht als monolithischer Block, sondern äußerst vielgestaltig und bunt präsentierte: Es ging nicht um die Beseitigung des Alten, sondern um seine Reformierung und Anpassung an neue Verhältnisse. Wie sehr sich dabei die Wahrnehmung dessen, was unter geglückter Anpassung zu verstehen war, voneinander unterscheiden konnte, zeigen die liturgischen Reformen der Anfangszeit.
Es war Stephen Harding, der daran ging, die Liturgie von überflüssigem Ballast zu befreien. Beibehalten werden sollte allein das, was ausdrücklich in der Benediktsregel festgehalten war. Sprachlich orientierte man sich an einem "authentischen" Bibeltext (den es erst einmal herzustellen galt). Das bedeutete im Umkehrschluss, dass man sich von vielen, liebgewordenen (liturgischen) Gebräuchen trennen musste. Die aus Molesme stammenden Hymnen wurden durch die aus Mailand stammenden ambrosianischen Hymnen ersetzt, waren diese doch in der Regula Benedicti explizit erwähnt worden. Mess- und Offiziumsantiphonar wurden durch das ersetzt, was die von Stephen Harding eigens entsandten Emissäre aus der Kirche von Metz, vor allem aus der Abtei von Saint-Vincent mitbrachten, galt die lothringische Stadt doch als Aufbewahrungsstätte des unverfälscht überlieferten gregorianischen Gesangs. Doch auch hier galt: Das, was zwar aus Metz stammte, aber in Widerspruch zu den Verfügungen der Benediktsregel stand (oder dort nicht zu finden war), wurde ausgesondert. Davon war die Tradition des Heiligengedenkens unmittelbar betroffen. Benedikt hatte sich dazu nicht geäußert, vor einer Art tabula rasa schreckte man andererseits aber zurück und fand den goldenen Mittelweg in Form eines Anhangs zu den Offizien von Laudes und Vesper. Antiphon, versiculusund Kollekte wurden also außerhalb des eigentlichen Offiziums, in Anschluss an das Schlussgebet, gesungen - damit war dem übergeordneten Prinzip Genüge getan.
Von großer Bedeutung sind Scarcez' Ausführungen zu den kulturellen Befindlichkeiten der frühen Zisterzienser. Sie spricht vom "choc culturel" (LX), um damit zu verdeutlichen, wie unzureichend man "kulturell" auf das vorbereitet war, was einem aus dem Metzer Antiphonar mit seiner "germanischen" Tradition entgegentrat. Innerhalb der Gemeinschaft jedenfalls sorgten die als fremd empfundenen Elemente im Antiphonar für Unruhe und Verstörung. Erst mit Bernhards Reform (die also, so Scarcez, unausgesprochen "de nature culturelle" (LXI) war), durch die "germanische" Texte und Melodien durch lateinische ersetzt wurden, sollte wieder Ruhe einkehren.
Die systematische Gegenüberstellung des frühen Breviers von 1132 mit der vorliegenden Edition, die auf Quellen aus den Jahren 1136/40 gründet, zeigt leichte Varianten, verteilt über das gesamte liturgische Jahr, zudem Umformulierungen und Restrukturierungen in den Formularen zu den Festen der Hll. Markus und Maria Magdalena. Bewiesen ist nun, dass bereits vor der bernhardinischen Reform die Texte des Stephen Harding einer leichten Revision unterzogen worden sind.
Gespannt sein darf man darauf, wie die hochgelehrte musikalische Edition zukünftig in den Bereich der aktiven Musikpflege ausstrahlen wird, wie stark sich also die Praxis von den Erkenntnissen der Forschung inspirieren lässt. Eine wichtige Arbeit, die weit über den Dunstkreis der mediävistischen Musikwissenschaft oder der Zisterzienserforschung hinausstrahlt.
Anmerkungen:
[1] Alicia Scarcez: Liturgie et musique à l'abbaye cistercienne Notre-Dame de la Fille-Dieu (Romont). Histoire et catalogue des sources de sept siècles de vie chorale (Spicilegii Friburgensis Subsidia, 25), Fribourg 2015.
[2] Chrysogonus Waddell: The Primitive Cistercian Breviary (Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, ms. lat. oct. 402. With Variants from the "Bernardine" Cistercian Breviary (Spicilegium Friburgense, 44), Fribourg 2007; Claire Maître: Le bréviaire cistercien Troyes, Bibliothèque municipal, Ms. 2028 (Spicilegium Friburgense, 46), Fribourg 2015.
[3] Der in der Forschung eingeführten Begrifflichkeit "primitiv" widmet Scarcez einige kluge Gedanken, vgl. IX.
Ralf Lützelschwab