Andreas Becker: Die Ordnung der Lappmarken. Herrschaft und Praktiken des Vergleichens im Zuge schwedischer Expansion in der Frühen Neuzeit (= Global- und Kolonialgeschichte; Bd. 10), Bielefeld: transcript 2022, 280 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-8376-6266-5, EUR 45,00
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Die Dissertation von Andreas Becker mit dem Titel "Die Ordnung der Lappmarken" beschäftigt sich mit Aushandlungsprozessen, die für die Herrschaftsausübung in der Frühen Neuzeit konstitutiv waren, und dem kolonialen Zugriff der schwedischen Krone auf die nördlichen Teile Fennoskandiens. Zentral für seinen Ansatz sind die "Praktiken des Vergleichens", deren Theorie im Bielefelder SFB gleichen Titels entwickelt wurde und die Becker anhand der Aushandlungsprozesse zwischen der Krone, deren lokalen Vertretern und der Bevölkerung in Nordschweden vom 16. bis zum 18. Jahrhundert durchdekliniert. Becker untersucht, inwieweit Vergleiche zwischen den Kerngebieten des schwedischen Reichs und dem Norden in der Ausbildung der kolonialen Prozesse angewandt und weiterentwickelt wurden. Mit Vergleichspraktiken und dem "Vergleichswissen" umschreibt er die Produktion eines kolonisierten Subjekts, die im Fall von Sápmi tatsächlich komplexer und damit historisch interessanter verlief als in Kolonien, in denen es einen Moment Null des Kontakts gab. Wie aus einem jahrhundertelangen gleichberechtigten Kontakt eine koloniale Herrschaftsbeziehung wurde, ist in der Tat ein wenig untersuchter und verstandener Prozess. Beckers Arbeit verfolgt insofern ein relevantes Forschungsinteresse.
Allerdings lässt "Die Ordnung der Lappmarken" eine klare historische Kontextualisierung der von ihm untersuchten Handlungslogiken vermissen - die kolonialen Praktiken, um die es hier geht, werden nicht als solche bezeichnet. Zunächst wird in der Arbeit durchgehend der Begriff "Lappen" verwendet, der als pejorativ gilt und deshalb in der Forschung und öffentlichen Debatte in Skandinavien meist vermieden wird. Becker begründet seine Entscheidung für diese Begrifflichkeit damit, "eine Essentialisierung irgendwie gearteter ethnischer oder kultureller Merkmale zu vermeiden" (9). Es stimmt zwar, dass es signifikante Unterschiede gibt zwischen der kolonialen Konstruktion einerseits und der Selbstdefinition der Saami andererseits, und dass die Zuweisung von modernen ethnischen Kategorien im nördlichen Fennoskandien bis in die Neuzeit kaum möglich ist. Diese Unterschiede aber durch die Verwendung eines beleidigenden Quellenbegriffs umgehen zu wollen, ist unzeitgemäß und höchst problematisch und würde vermutlich bei kolonisierten Gruppen, die mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen als die Saami, nicht durchgehen: die ebenfalls von Kolonialmächten nach rassistischen Gesichtspunkten definierten und zusammengefassten First Nations in Kanada und den USA würde wohl niemand in einer wissenschaftlichen Arbeit als "Indians" bezeichnen, um mit Hilfe des meistbenutzten Quellenbegriffs eine Essentialisierung zu vermeiden.
Becker nennt selbst als ein zentrales Ziel seiner Arbeit, die Handlungsspielräume der lokalen Bevölkerung zu betonen, in Abgrenzung zu postkolonialen Studien. Diesen wirft er vor, indigene agency zugunsten von pauschalen Opfererzählungen zu ignorieren (17) - eine Sichtweise, die einen der grundlegenden Paradigmenwechsel, die in Indigenous Studies und anderen Richtungen eingefordert und ausgearbeitet werden, ignoriert, nämlich genau die Perspektive auf agency anstelle eines Objektstatus der Kolonisierten, wie ihn der koloniale Blick produziert. In der Tat ist die Sichtbarmachung der Handlungsstrategien der nordschwedischen Bevölkerung in den untersuchten Aushandlungsprozessen eine Stärke der Arbeit. Auf der anderen Seite blendet Becker aber die gleichzeitig stattfindenden repressiven Maßnahmen von staatlichen und kirchlichen Akteuren aus. Denn um den Prozess der Herrschaftsausübung umfassend zu analysieren, wäre es wichtig gewesen, das Zusammenwirken der Krone, der Vögte und der Kirche in den Regionen mit einzubeziehen. Immerhin fallen in den Untersuchungszeitraum so tiefgreifende Ereignisse wie die Einrichtung der Missionsschulen und die Konfiszierung der rituellen Trommeln - Widerstand gegen diese Maßnahmen, zweifelsohne auch eine Form indigener agency, haben etwa Gunlög Fur und Daniel Lindmark herausgearbeitet.
Die Ablehnung einer spezifischen Interpretation von postkolonialen Studien scheint Becker daran zu hindern, die Bedeutung verflochtener kolonialer Prozesse und Institutionen als konstitutiv für die Entwicklung des schwedischen Staates anzusehen - er untersucht zwar die Expansion und die Verhandlungen zwischen Krone und lokalen Akteuren in ihrer Bedeutung für die Staatsbildung sowie die Herrschaftsausübung, lässt dabei aber außer Acht, dass diese die ersten Schritte in Richtung der de facto Kolonisation von Sápmi bildeten, und damit auch, welche Rolle diese Kolonisation umgekehrt für Herrschaftsausübung und Staatsbildung spielte.
Bezüglich der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte Norrlands liefert Beckers Arbeit einige interessante Ergebnisse, die die schwedische und finnische Forschung ergänzen und nuancieren. Im nördlichen Fennoskandien lebten verschiedene Bevölkerungsgruppen, deren Unterscheidung voneinander die Kronen lange Zeit wenig interessiert hatte. Davon waren aber die Saami, sofern nicht getauft, die einzigen, die historisch einer anderen Besitz- und Verwertungslogik unterlagen als die ansässigen Bauern. Ihre systematische und individuelle Besteuerung - im Gegensatz zur kollektiven Besteuerung des Spätmittelalters - wurde unter anderem über die Übertragung von Konzepten zum Landbesitz hergestellt. Hierbei wurden, so ein interessanter Befund Beckers, in der Steuerreform von 1602 althergebrachte Jagd- und Fischereigründe so behandelt wie Landbesitz oder -bewirtschaftung und daraus Steuerpflichten abgeleitet - und eine Sesshaftwerdung der nomadischen oder halbnomadischen Bevölkerung gefordert. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts wurde dann Landbesitz nach dem Vorbild der agrarisch geprägten südlichen Regionen auch im Norden "zugewiesen" und danach die Erfassung der Bevölkerung in den allgemein üblichen Steuerlisten (mantalslängder) manifestiert. Für den kolonialen Zugriff ist hierbei entscheidend, dass damit auch der gesamte Norden als von der Krone beanspruchtes Land definiert wurde.
Becker rahmt seine Arbeit an den wirtschafts- und rechtshistorischen Quellen (Steuerlisten, Dokumente zu Steuer- und Landreformen, Gerichtsprotokolle) mit einem Text des Gouverneurs der Provinzen Västerbotten und Österbotten Johan Graan von 1673, in denen dieser Vergleiche zwischen den Bevölkerungsgruppen anstellte, dass also Saami und Bauern in ihren Funktionen und Rechten erst definiert, dann vergleichend hierarchisiert und geordnet wurden. Dies dient Becker als Aufhänger seiner Theorie der Vergleichspraktiken. Graans Text ist aber auch ein Schritt in der Entwicklung der Definition der Saami als rentierzüchtende Halbnomaden, was nicht den vielfältigen Lebensrealitäten und Wirtschaftsformen entsprach, sondern für die schwedische Krone ein Zugriffsrecht auf große Teile des Landes sicherte und gleichzeitig die staatlich anerkannte Gruppe der Saami effektiv minimierte. Diese koloniale Definition und ihre Ausformung seit dem 19. Jahrhundert führen bis heute zu inner-samischen Konflikten und zum Ausschluss großer Gruppen von Saami aus den samebyar, und damit aus politischen Teilhabeprozessen.
Der Prozess des juristischen und ökonomischen Zugriffs auf Norrland und seine Bevölkerung wird in Beckers Arbeit über einen Zeitraum von 250 Jahren griffig und quellennah beschrieben - allerdings fehlen entscheidende Aspekte. Die tiefgreifenden Probleme, die diese in der Frühen Neuzeit entwickelten Praktiken für die Verglichenen bis heute mit sich bringen, werden aus der Untersuchung konsequent ausgeblendet, ebenso wie die Rolle der Kirche, die Bedeutung der Metallgewinnung in Sápmi und die Wissensvermittlung, die aus anderen kolonialen Zusammenhängen für diese Praktiken wichtig war. "Jag behöver ingen koloni - jag har ju Norrland" (Ich brauche keine Kolonie, ich habe ja Norrland) soll Reichskanzler Axel Oxenstierna (1583-1654) gesagt haben. Der Kolonialismus als globale Herrschaftspraktik, in der christliche Mission, rassistische Konstruktionen und die von Becker beschriebenen ökonomischen Praktiken zusammenkamen, inspirierte die schwedische Herrschaftsausübung in Norrland, und diesen Rahmen lässt Andreas Beckers Arbeit leider zugunsten eines theoretischen Zugriffs aus, der nur einen kleinen Teil des gesamten Prozesses zu beschreiben vermag.
Cordelia Heß