Rezension über:

Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent, Berlin: Rowohlt 2022, 400 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-7371-0126-4 , EUR 32,00
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Rezension von:
Christian Methfessel
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Christian Methfessel: Rezension von: Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent, Berlin: Rowohlt 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/37687.html


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Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa

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Norbert Mappes-Niedieks Buch über die Jugoslawienkriege ist im deutschsprachigen Raum auf großes Interesse gestoßen. Dafür sprechen die zahlreichen Rezensionen, die schon wenige Monate nach Erscheinen des Werks erschienen sind [1], und die Interviews, die der Autor alten und neuen Medien gegeben hat. [2] Zum einen ist nach dem russischen Angriff auf die Ukraine das Interesse am ersten "Krieg in Europa" nach Ende des Kalten Kriegs gestiegen. Zum anderen liegt der Ausbruch der Jugoslawienkrise mehr als 30 Jahre zurück und mit dem Ende der üblichen Sperrfrist können bislang nicht zugängliche diplomatische Dokumente eingesehen werden. So werden schon Akten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts zitiert.

Insgesamt ist die Anzahl der Fußnoten jedoch begrenzt. Mappes-Niediek war zur Zeit der Jugoslawienkriege Korrespondent für Südosteuropa und viele Passagen des Buches beruhen auf seinen Erfahrungen als Journalist. Ziel des Autors war es nicht, eine Monografie zu verfassen, bei der für jede Aussage eine Quelle angeführt wird. So kann man lesen, dass "[s]zenische Darstellungen" entweder "glaubwürdigen Zeitzeugen" entstammen, aus "mehreren - oft mündlichen - Berichten zusammengestellt sind" oder der Autor sie selbst erlebt hat (366, Fn. 1). Auch bei der Darstellung der internationalen Politik sucht man häufig vergeblich nach einem Beleg. Das ist aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bedauerlich, denn an vielen Stellen hätte man sich eine quellengestützte Auseinandersetzung mit vorliegenden Forschungspositionen gewünscht. Aber man kann dies einem Buch, das sich primär an die breite Öffentlichkeit richtet, kaum zum Vorwurf machen. Dafür liegt nun ein gut lesbares Werk vor, das mit prägnanten Formulierungen, eindringlichen Beschreibungen von Schlüsselereignissen und gelungenen Portraits der entscheidenden politischen Akteure überzeugt.

Insgesamt sieben Kapitel behandeln die Kriege, die im (post-)jugoslawischen Raum in den 1990er Jahren geführt wurden: Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit dem Slowenien- und dem Kroatienkrieg bis zum Waffenstillstand Anfang 1992. In beiden Fällen werden ausführlich Vorgeschichte und Ursachen diskutiert, etwa die zunehmenden Spannungen zwischen den jugoslawischen Republiken nach Titos Tod. Die folgenden drei Kapitel behandeln den Bosnienkrieg. Zunächst wird die Eskalation des Konfliktes geschildert und versucht, die Brutalität der Gewalt dieses Krieges zu erklären. Daraufhin werden der Verlauf des Kriegs bis Ende 1993 und die vergeblichen Vermittlungsbemühungen von UNO und Europäischer Union beschrieben. Schließlich werden die Entwicklungen der letzten beiden Kriegsjahre behandelt: die Übernahme der Führungsrolle durch die USA im internationalen Konfliktmanagement, die zunehmenden Luftschläge der NATO gegen die bosnischen Serben, das Massaker von Srebrenica, das Ende des Kriegs in Kroatien und das Abkommen von Dayton. Das siebte und letzte Kapitel behandelt den Konflikt um den Kosovo, beginnend mit Rückblicken auf das frühe 20. Jahrhundert und den Auseinandersetzungen im sozialistischen Jugoslawien bis zur Militärintervention der NATO 1999.

Bestimmte Einschätzungen und Bewertungen ziehen sich durch die gesamte Darstellung. Der serbischen Führung wird insgesamt die Hauptschuld für den Ausbruch der Gewalt gegeben. Im zweiten Kapitel wird argumentiert, dass erst Serbiens nationalistische Politik zum Wahlsieg der nationalistischen Partei HDZ in Kroatien geführt habe (63), und im vierten Kapitel zustimmend auf eine Schätzung verwiesen, nach der 70 % der Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina von serbischer Seite begangen worden seien (222). Allerdings bemüht sich Mappes-Niediek stets, Verbrechen und Schuld aller Kriegsparteien aufzuzeigen. Er arbeitet heraus, wie die kroatische Politik die Eskalation der Kriege in Kroatien wie Bosnien-Herzegowina förderte und bezeichnet die Vertreibung der kroatischen Serben aus der Krajina als "die größte Massenvertreibung von Menschen seit der unmittelbaren Nachkriegszeit" (279). Wenngleich Mappes-Niediek feststellt, dass die bosnische Regierung als einzige Kriegspartei niemals eine Strategie der Vertreibungen verfolgte, thematisiert er auch Kriegsverbrechen, die von bosnischen Muslimen begangen wurden (222). Insgesamt vermeidet er eine Parteinahme für die bosnische Regierung als demokratische legitimierte Vertretung eines multi-ethnischen Staats. [3] Für Mappes-Niediek handelte es sich um einen ethnischen Konflikt, der "gemeinsame Staat war nicht mehr als eine leere Hülle; allein als Argument in internationalen Verhandlungen tat er noch seinen Dienst" (191).

Mit Blick auf die für die Kriege charakteristischen Gewaltverbrechen kritisiert Mappes-Niediek durchgehend zeitgenössische Deutungen von der Wiederkehr historischer Konflikte und archaischem Hass. Stattdessen stellt er die politischen Ziele heraus, die mit den Massakern und Vertreibungen verfolgt wurden. Er zeigt, wie das Vorgehen der kroatischen Serben zu Beginn des Kroatienkriegs von Belgrad aus gesteuert wurde (92-94), und argumentiert, dass die im Bosnienkrieg von Serben und Kroaten durchgeführten Vertreibungen das Ziel verfolgten, homogene Nationalstaaten zu schaffen (173-175).

Durchweg kritisch bewertet Mappes-Niediek die internationalen Reaktionen auf die Jugoslawienkriege. Insbesondere die europäischen Vermittlungsversuche hält er im besten Fall für ergebnislos, bisweilen sogar für konfliktverschärfend. Nicht die europäische diplomatische Intervention habe zum Ende des Slowenienkriegs geführt, sondern Entscheidungen der politischen Akteure vor Ort. Und zum Waffenstillstand in Kroatien sei es nicht infolge der Anerkennung durch die EG-Staaten Anfang 1992 gekommen, sondern aufgrund von Entwicklungen in der Krisenregion. Die insbesondere von Deutschland betriebene Politik der Anerkennung der jugoslawischen Nachfolgestaaten habe hingegen wenig später zum Ausbruch des Bosnienkriegs geführt.

Damit positioniert sich Mappes-Niediek in einer Frage, die schon zeitgenössisch kontrovers diskutiert wurde. So ist wenig überraschend, dass gerade dieser Punkt in der - sonst überwiegend positiven - Diskussion zu seinem Buch auch auf Widerspruch gestoßen ist. [4] Tatsächlich ist es fraglich, ob ein Aufschieben der Anerkennung den Ausbruch des Bosnienkriegs hätte verhindern können. Es bleibt offen, wie eine Gesamtlösung für den Zerfall Jugoslawiens, die nach Mappes-Niediek der Anerkennung hätte vorausgehen müssen, hätte aussehen und friedlich erreicht werden können. [5] Andere Kritikpunkte an der deutschen Politik werden besser begründet. So werden Archivquellen für die These angeführt, dass der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der ersten Jahreshälfte 1991 kaum aktiv wurde, um die moderaten Kräfte in der föderalen Regierung Jugoslawiens zu stärken. Und die Beobachtung, dass die deutsche Politik weit weniger Interesse an Bosnien-Herzegowina als an Kroatien und Slowenien zeigte, kann ebenfalls Anstöße für die nun anstehende archivgestützte Aufarbeitung der internationalen Reaktionen auf den Ausbruch der Jugoslawienkriege geben.

Auch wenn man über einzelne Aussagen streiten und an vielen Stellen über Nuancen wie auch Gewichtungen diskutieren kann, hat Mappes-Niediek eine insgesamt ausgewogene und zuverlässige Darstellung vorgelegt. Das Buch ist ein gelungener Beitrag zur öffentlichen Debatte um die Entwicklung von Krieg und Frieden in Europa nach Ende des Ost-West-Konflikts.


Anmerkungen:

[1] Siehe etwa die Rezensionen von Johannes Schillo, in: socialnet, 6.1.2023, https://www.socialnet.de/rezensionen/30199.php; Alexander Heinrich, in: Das Parlament, 13.2.2023, https://www.das-parlament.de/2023/7_9/das_politische_buch/934164-934164; Thomas Bürgisser, in: Die WOZ. Die Wochenzeitung, 13.4.2023, https://www.woz.ch/2315/zeitgeschichte/kaskade-der-gewalt/!98D2DMXJAGZK; Oliver Kannenberg, in: Portal für Politikwissenschaft, 20.5.2023, https://www.pw-portal.de/themen/norbert-mappes-niediek-krieg-in-europa-der-zerfall-jugoslawiens-und-der-ueberforderte-kontinent.

[2] Z.B. "Aus dem Krieg gelernt". Als Jugoslawien zerfiel, war Norbert Mappes-Niediek dort Korrespondent. In seinem neuen Buch sortiert er Dynamiken, Kalkulationen und Fehlschlüsse, in: taz, 8.12.203, https://taz.de/Balkan-Korrespondent-ueber-den-Jugoslawienkrieg/!5896694/; Podcast: Woher kommt der Hass am Balkan, Norbert Mappes-Niediek?, in: Kleine Zeitung, 1.2.2023, https://www.kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/6246030/Podcast_Woher-kommt-der-Hass-am-Balkan-Norbert-MappesNiediek; Norbert Mappes-Niediek: Die Lehren aus den Jugoslawienkriegen, in: SRF, 27.2.2023, https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/norbert-mappes-niediek-die-lehren-aus-den-jugoslawienkriegen?id=12343057; Ballaballa-Balkan liest "Krieg in Europa", https://ballaballa-balkan.de/episode/ballaballa-balkan-liest-krieg-in-europa.

[3] Für eine solche Perspektive vgl. Brendan Simms: Unfinest Hour: Britain and the Destruction of Bosnia, London 2002.

[4] Vgl. die Rezensionen von Alida Bremer, in: der Freitag, 8.12.2022, https://www.freitag.de/autoren/alida-bremer/jugoslawien-die-unheilvolle-dynamik-des-krieges-nahm-ihren-lauf, und Michael Martens, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.2.2023, https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/wie-der-vielvoelkerstaat-zerfiel-18658521.html.

[5] Nach Simms, Unfinest Hour, 19, hätte eine solche Politik die serbische Forderung nach einer Revision der Grenzen zwischen den jugoslawischen Republiken begünstigt. Vgl. auch die Diskussion bei Michael Martens: Citissime nachts - Die deutsche Außenpolitik und der Zerfall Jugoslawiens 1991, in: Südosteuropa Mitteilungen 1 (2023) H. 1, 19-42, hier 40-42.

Christian Methfessel