Franziska Nicolay-Fischbach: Erziehung zur "Sittlichkeit". Schutz und Ausgrenzung in der katholischen Jugendarbeit in Bayern 1918-1945 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 130), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, VIII + 438 S., 20 Tbl., ISBN 978-3-11-072812-5, EUR 69,95
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Die Studie von Franziska Nicolay-Fischbach, die auf der Grundlage ihrer im Wintersemester 2018/19 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereichten historischen Dissertation entstand, ist in vielerlei Hinsicht einmalig: Sie stellt mit der Untersuchung der Entwicklung der katholischen Kinder- und Jugendwohlfahrt in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus nicht nur die erste Regionalstudie für Bayern zu dieser Thematik vor. Ihre Studie ist ein vielversprechender Anfang, diese Forschungslücke hinsichtlich der konfessionellen Wohlfahrt auch für den gesamtdeutschen Kontext zu schließen. Dabei gibt sie wichtige Impulse für ein interdisziplinär ausgerichtetes methodisches Vorgehen. Im Fokus der Fragestellung steht die katholische Kinder- und Jugendwohlfahrt als Sozialisationsinstanz vor allem hinsichtlich deren Wertekonzept der "Sittlichkeit". Denn die Studie baut auf der These auf, dass die Konstruktion von Sittlichkeit wie auch die ihr zugrundeliegenden Erziehungsvorstellungen Dreh- und Angelpunkte der Kontinuitäten und Diskontinuitäten katholischer Jugendwohlfahrt zwischen Demokratie und Diktatur (1918-1945) darstellen. Mittels dieses mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes als Analyseinstrument zur Eruierung der Zusammenhänge zwischen Erziehungskonzepten, Vorstellungen von Kindheit resp. Jugend und Gesellschaftsbilder - zwischen Demokratie und Diktatur -, reiht sich die Studie in aktuelle Forschungsprojekte zur Jugendfürsorge ein, wie bspw. der ebenfalls im Jahr 2022 publizierte Sammelband "Zwang zur Erziehung" sehr anschaulich belegt. [1]
Nicolay-Fischbach legt ihre Untersuchung der die katholischen Institutionen prägenden Diskurse, Konzepte, und Praktiken außerschulischer und außerfamiliärer Erziehung im Zusammenspiel von drei Ebenen an: (1) die Stufe der kirchlichen Leitung (Diözesanebene) und deren Einfluss auf die Institution insgesamt; (2) die darunter liegenden Strukturen der Jugendpflege und Jugendfürsorge und (3) die konkrete Erziehungspraxis.
Die Darstellung dieser Entwicklung "zwischen Demokratie und Diktatur" wird in vier Kapiteln behandelt, die sich an den einzelnen klassischen Zeitzäsuren "Weimarer Republik" (Kapitel 2) und "Nationalsozialismus" (Kapitel 3) orientieren.
Kapitel 1 erörtert die für die Studie zentralen Annahmen und Fragestellungen, anhand derer die Entwicklung katholischer Jugendwohlfahrt zwischen 1918 und 1945 als Anpassung oder tiefer gehender Wandel im Kontext von gesellschaftlicher Entwicklung und Sozialstaatlichkeit nachvollzogen wird. Die Überschrift "moderne katholische Jugendarbeit" legt nahe, dass es hierbei um die Frage einer grundlegenden Veränderung auch innerhalb der kirchlichen Wohlfahrt insgesamt geht. Weiter wird das methodische Konzept kirchlich-katholischer Sozialisation näher erläutert, das in den folgenden Kapiteln dazu dient, den Wandel katholischer Jugendarbeit für spezifische Bereiche zu qualifizieren: In welchen Bereichen erweist sich der Wandel als tiefgreifend und damit unumkehrbar, und in welchen Bereichen erweist er sich als eher anpassungsfähig, um althergebrachte Werte- und Praxiskonzepte weiter zu tradieren?
Näher ausgeführt wird die Annahme, dass sich in der Konstruktion der Sittlichkeits- und Erziehungsvorstellungen die gesellschaftliche Seite katholischer Werteorientierung realisiert. Deutlich werde dies vor allem in der Verschränkung von institutionellem und individuellem Handeln. Als gesellschaftlich prägend wird insbesondere der Diskurs über die Entdeckung der Jugend und damit verbunden, ein wachsendes Verständnis um eigenständige Kindheits- und Jugendphasen vorgestellt. Ab der Wende des 19. und 20. Jahrhundert entwickelte dieses neue Bewusstsein seine Kraft in der Sozialpädagogik. Im katholischen Resonanzraum wurde dieser Diskurs als Projektionsfläche kulturkritischer Positionen adaptiert. So erfolgten Innovationen vor allem hinsichtlich der Organisationsstruktur, was die Autorin als Ausdruck einer Wagenburgmentalität aus Zeiten des Kulturkampfes Ende des 19. Jahrhunderts wertet. Gemäß dieser Logik führte die Angst, von nichtkonfessionellen und nichtstaatlichen Akteuren aus dem Wohlfahrtssektor verdrängt zu werden, zur Entwicklung eines eigenen modernen Vereinswesens, das sich an die neuen gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse und Organisationsstrukturen anpasste. Beispiele dafür waren der katholische Wohlfahrtsverband Caritas auf Reichsebene wir die katholischen Jugendfürsorgeverbände auf regionaler Ebene. Einerseits bedeuteten die so neu entstandenen Vereine eine organisationale Öffnung des Milieus jenseits amtskirchlicher Strukturen, andererseits gelang es der Amtskirche zugleich in diesen neuen Strukturen, die katholisch-hierarchischen und traditionellen Mentalitäten weiter zu tradieren.
Kapitel 2 behandelt die Katholische Jugendwohlfahrt in der Weimarer Republik, ihr institutionelles und personelles Gefüge und vor allem, in welcher Weise und von wem eine Öffnung gegenüber anderen Diskursen und Disziplinen geschah. Hinsichtlich der Frage, welche modernen gesellschaftlichen Diskurse des Sittlichkeitsdenken und des Handelns im Kontext der katholischen Jugendwohlfahrt adaptiert wurden, wird aufgezeigt, dass einerseits zwar neue pädagogischen Modelle der Jugendführung, wie Konzepte von Fröbel und Montessori aufgegriffen und diskutiert wurden. Auch gelang vor allem unter dem Einfluss der bürgerlichen Frauenbewegung die Weiterentwicklung professionalisierter pädagogischer Ausbildung, wie die Etablierung der katholischen Frauenschule von Ellen Amann (München) zeigt. Zudem wurde die Differenzierung zwischen Jugendfürsorge und Jugendpflege auch innerhalb der katholischen Jugendwohlfahrt vollzogen. Andererseits zeigten sich die Kontinuitäten katholischer (und staatlicher) Zwangserziehung - in Gestalt von Gewalt und Missbrauch - und repressiver Rettungshauspädagogik. Skandalisiert Ende der 1920er Jahre öffentlich als Krise der Jugendfürsorge führte diese Krise auch zu einem Vertrauensverlust gegenüber der katholischen Anstaltserziehung.
Als Fazit stellt Nicolay-Fischbach fest, dass der Umbau von Struktur und Organisation der katholischen Jugendwohlfahrt sich nicht entsprechend in der inhaltlichen Seite widerspiegelt, im Gegenteil. Durch das Festhalten an wilhelminischen Erziehungsparadigmen, der unhinterfragten Vorrangstellung der geistlichen Leitung wie auch der Beibehaltung der geschlechtsspezifischen Differenz in der Erziehung wurden die vor-demokratischen und antimodernistischen Kontinuitäten gestärkt. Für den Kindergartenbereich als neuem Feld der Jugendpflege, untersucht die Autorin die Praktiken der Kindergartenschwestern, die althergebrachte Familienmodelle stärken sollten. Noch mehr in der Anstaltsfürsorge realisierte sich die Ablehnung reformpädagogischer Ansätze bzw. humanistischer, an den Bedürfnissen der Kinder orientierter Pädagogik. Anhand der Lebensläufe der Kinder Johanna Deinhardt und Wilhelm Schneider wird deutlich, wie die konfessionell-moralisch motivierten Stigmatisierungen von Einzelkindern und erwerbstätigen Müttern nicht nur in den Kindergärten, sondern noch weitaus aggressiver auch in den katholischen Erziehungsheimen erfolgte.
In Kapitel 3 geht es um die weitere Entwicklung im Nationalsozialismus. Die Zäsur im Jahr 1933 angesichts des politischen Bruchs durch die Etablierung der NS-Diktatur, wertet die Autorin als noch entscheidender hinsichtlich der Folgen als die bereits Ende der Weimarer Republik zu konstatierende inhaltliche Verfestigung repressiver antidemokratischer Menschenbilder und Erziehungskonzepte, die auf Persönlichkeits-Zuschreibungen von Höher- und Minderwertigkeit basierten. Das Kapitel untersucht, wie verbreitet selektierende und exkludierender Erziehungspraktiken, die explizit die individuellen Schutzrechte der Kinder und Jugendlichen verletzten, angewandt wurden. Und es wird deutlich, in welch größerem Ausmaß als bisher angenommen, sich die Katholische Jugendwohlfahrt als äußerst anschlussfähig für das NS-rassenhygienische Programm des "Ausmerzens" gegen hilfsbedürftige und kranke Menschen angeboten hat. Den fruchtbaren und furchtbaren Boden dafür bereiteten auch katholische Sittlichkeitsvorstellungen, gebunden an Erbsünde und Schöpfungslehre in Verbindung mit humanwissenschaftlichen Erkenntnissen.
Deutlich wird insbesondere das Fehlen einer entsprechenden ideologischen Immunisierung durch katholische Wertekonzepte gegenüber der NS-Ideologemen. In diesem Sinne wirkte die kirchenpolitische Strategie durch Kollaboration den Erhalt der Institution zu sichern, nicht als Schutzraum für die Kinder. Die Autorin arbeitet überzeugend heraus, dass die Kirchenhierarchie weit weniger Probleme hatte, sich den Anforderungen des NS-Regimes anzupassen als im Übergang zur Weimarer Demokratie. Gerade auch die Bischöfe in Bayern hofften auf einen günstigen Abschluss des Reichskonkordats und ließen öffentlich Bedenken gegen NS-Bewegung und Regime, die zuvor durchaus artikuliert worden waren, fallen. Vorherrschend fanden sich auch in den Praxisfeldern der Jugendwohlfahrt das Bemühen, Schnittmengen mit der NS-Wohlfahrt zu finden und auszubauen. Man versprach sich davon vor allem eigene Handlungsspielräume und eine gewisse strukturelle Unabhängigkeit, auch unabhängig von der Amtskirche. Das Fazit der Autorin lautet, dass in der Praxis Ausgrenzung und Auslieferung an repressive Maßnahmen insgesamt überwogen. Insbesondere in der Jugendfürsorge befanden sich die hilfsbedürftigen Kinder und Jugendlichen in einer - auch tödlichen - Gefahrenzone, bedroht durch Zwangssterilisation, Überstellung in Jugendkonzentrationslager oder durch die Auslieferung an Orte der Kinder-"Euthanasie".
Im letzten Kapitel 4, das mit den Folgen des verlorenen Kriegs und der Befreiung von der NS-Diktatur abschließt, analysiert die Autorin, welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten sich als charakteristisch für die Konsolidierung der Jugendwohlfahrtsstrukturen in den ersten Jahren der Bundesrepublik bzw. in Bayern, herausbilden. Als zentral identifiziert sie den Rückgriff auf die Erziehungsstile der Weimarer Praxis. In einigen Bereiche, wie hinsichtlich der Jugendseelsorge und Jugendarbeit, konstatiert sie durchaus moderate Reformen. Dagegen dominierten in der Jugendfürsorge weiterhin autoritäre und repressive Praktiken. In diesem Spannungswelt lässt sich der Wandel, den die katholische Jugendwohlfahrt zur Jugendhilfe zwar zögerlich aber dennoch vollzogen hatte, letztlich als eine - erneute - Anpassungsstrategie erklären, die vor allem dem Selbsterhalt der Institution und ihrer Rolle in der öffentlichen Erziehung geschuldet war.
Nicolay-Fischbach ist eine beeindruckende und wegweisende Studie gelungen, die auf einer beachtlichen umfangreichen Recherche in insgesamt 24 Archiven beruht, die nur einen Teil der möglich noch erhaltenen Quellen der Netzwerkstruktur der katholischen Jugendwohlfahrtslandschaft (ver)bergen. Die möglichen Bestände der vielfältigen Trägervereine und Anstalten insgesamt sind nach den mühevollen Rechercheerfahrungen der Autorin entweder nur rudimentär in Archiven bzw. Registraturen überliefert, oder die Zugänge für die wissenschaftliche Auswertung wurden und werden bewusst durch eine restriktive Geschichtspolitik verhindert, unter Umgehung der Nutzungsrechte der geltenden bayerischen und kirchlichen Archivgesetze. Diese Strategie entspricht, wie die Studie über den gesamten Untersuchungszeitraum eindrucksvoll belegt, der Tradition des Vertuschens und des Schweigens von Gewalt und Missbrauch gegen die Schutzbefohlenen und insbesondere auch der Kollaboration bei NS-Verbrechen des "Ausmerzens" gegen die als "minderwertig" selektierten Kinder und Jugendlichen.
Der sich bis heute hartnäckig haltenden Deutung einer durch das NS-Regime eingeschränkten Kirche in Bayern widerspricht der klare Befund, dass die Katholische Kirche ihren Einfluss in der Jugendwohlfahrt beibehalten und in der Jugendfürsorge sogar erweitern konnte. So liefert die Studie nicht nur wichtige historischen Erkenntnisse und Argumentationshilfen für aktuelle und zukünftige Studien im Kontext der innerkirchlichen Aufarbeitung des Verbrechenskomplexes gegen Kinder und Jugendliche. Die beharrlichen Bemühungen von Nicolay-Fischbach um Zugang zu den Archiven trugen auch dazu bei, dass ein Projekt innerhalb des Diözesanarchivs München-Freising zur Sicherung von Quellenbeständen und ihres Zugangs zur Thematik angestoßen wurde.
Anmerkung:
[1] Vgl. Oliver Gaida / Marie-Theres Marx / Julia Reus / Anna Schiff / Jan Waitzmann (Hgg.): Zwang zur Erziehung. Deviante Jugendliche als institutionalisierte Aufgabe im 20. Jahrhundert, Berlin 2022.
Annette Eberle