Felix Hinz: Historische Mythen im Geschichtsunterricht. Theorie und Zugriffe für die Praxis (= Methoden Historischen Lernens), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, 240 S., 55 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1505-0, EUR 23,00
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Felix Hinz, Professor für Geschichtsdidaktik an der PH Freiburg im Breisgau, lehrt dort zugleich Frühe Neuzeit und Neuere Geschichte und setzt sich schon länger mit historischen Mythen auseinander. [1] Historisch sind die Mythen insofern, als sie entweder Teil einer vergangenen Geschichtskultur oder in der Gegenwart zwar verortet sind, jedoch historische Elemente enthalten oder zumindest historisch erklärt werden können - und sei es nur auf Basis der Mythentheorie. Inhaltlich spannt sich der Bogen folglich von der Odyssee bis zu aktuellen Verschwörungstheorien.
Wie in der Verlagsreihe üblich, werden zunächst theoretische Fundamente gelegt, die sich dem Begriff annähern, Eigenschaften und Funktionen des Mythos beschreiben. Dann wird eine Typologie vor allem historischer Mythen vorgelegt. Demnach soll der Mythos mehr sein als nur die klassische Götter- und Heldensage, sondern "eine in der Gesellschaft bekannte historische Narration [...], deren Wahrheitsgehalt gemeinhin anerkannt ist, deren Plausibilität bei näherer Betrachtung aber zugleich problematisch erscheint." (10). Dies wird anhand der drei Ebenen historiographischer Triftigkeit (Empirie, Normativität, Narrativität) erläutert, die Jörn Rüsen [2] schon vor Jahrzehnten eingeführt hat und die neben Frank Ankersmits Überlegungen zur Beurteilung von Historiographie [3] bis heute das zentrale analytische Werkzeug der Historiographieanalyse darstellen.
Nach Meinung des Rezensenten wäre demnach ein Mythos eine Erzählung, bei der die normative und narrative Triftigkeit, mithin die Reichweite, die behauptete Gültigkeit sowie die hermetische Kohärenz der Erzählung (zum Beispiel der raunende Gestus des Geheimwissens) in einem deutlichen Missverhältnis zur schmalen empirischen Triftigkeit stehen. Dies würde den bei Felix Hinz inhaltlich sehr umfassenden Mythenbegriff etwas verengen und mit Blick auf die Auswahlliste historischer Mythen der westlichen Welt (209-215) zu einer Straffung führen, gerade bei den Mythen durch Überhöhung. Aber zum Mythos scheint es zu gehören, dass er als Aufschrift für überholte Narrative dienen kann.
Für Hinz ist daher der Mythos parallel zum kulturellen Gedächtnis angesiedelt und bildet eine Parallelwahrheit jenseits eines vereinheitlichten und sich selbst als rational bewertenden Narrativs des kulturellen Gedächtnisses. Zur theoretischen Beschreibung grenzt er den Mythos vom Konzept Erinnerungsorte ab, ordnet ihn ein in das historische Denken, wie es die Geschichtsdidaktik definiert, und befragt Diltheys Konzept, das Verstehen und Erklären unterscheidet: Der Mythos sei auf Erklären, nicht Verstehen aus, behauptet Wahrheiten, wo die rationale Geschichtswissenschaft begründete und diskutierbare Theorien aufstellt. Die Übergänge sind fließend, da, wie Hinz zeigt, beide Felder über viele Gemeinsamkeiten verfügen.
Graduell zu verstehen ist auch die Typologisierung der Mythen nach dem Fiktionalitätsgrad: Von pseudohistorischen Mythen reicht die Spanne über die Fiktionalisierung eines historischen Kerns zur Überhöhung eines historischen Geschehens oder einer Person, die damit zum in einen Begriff geronnenen Mythos wird. Die Eigenschaften und Funktionen der Mythen sind breit angelegt und folgen den in der Rhetorik, der Kommunikationstheorie, aber auch in geschichtskulturellen Untersuchungen (Rolf Schörken [4]) grundgelegten Kategorien und Deutungen. Ihre Besonderheit ist die oft vorhandene, langlebige archetypische Matrix, zu verstehen als Narrem, das immer wieder aktiviert werden kann. Mythen konkurrieren, schichten oder koppeln sich. Ermöglicht wird dies durch Strukturelemente, Hinz nennt sie Mytheme, die die Transformation erlauben - eine Reminiszenz an die interkulturelle Märchenforschung. Von besonderer Relevanz sind hier die Ursprungsmythen, die schon Voegelin einer eingehenden Analyse unterzog und deren Adaption und Konkurrenz, Hinz spricht vom Kapern, er als Historiomachie bezeichnete. [5]
Dies leitet über zur inhaltlich-strukturellen Typologie von Mythen, die Personen, Zeiten, Ereignistypen wie Anfang oder Untergang und vieles andere behandeln können, was Gegenstand normaler Historiographie sein könnte. (Der Umkehrschluss, dass alles Historiographische zum Mythos werden könnte, scheint indes nicht zu gelten.) Der Absolutheitsanspruch mancher Mythen, mit Odo Marquard Monomythen genannt, spiegelt sich in der materialen Geschichtsphilosophie. Die Bekanntheit zumindest historischer Mythen unter Studierenden, so stellte der Verfasser fest, ist allerdings ernüchternd. Bedenkt man, dass jede Zeit ihre Mythen hat (vgl. 36f.), ist dies vielleicht erwartbar.
Der praktische Teil beginnt mit einer Übersicht zur geschichtsdidaktischen Forschung zum Thema, zur Verankerung in den Lehrplänen und kommt auf die Schulbücher zu sprechen, die ihre postkolonialen Hausaufgaben der Entmythisierung offenbar noch nicht ganz erledigt haben. Auf dieser Basis entwirft Felix Hinz Kompetenzziele für Schülerinnen und Schüler für den Umgang mit Mythen. Das bildet die Basis für konkrete Unterrichtsvorschläge in Form eines Spiralcurriculums, beginnend mit der Sekundarstufe I.
Der Durchgang startet mit der Behandlung der Odyssee als Beispiel einer klassischen Götter- und Heldensage, diskutiert Alternativen und die Vielzahl möglicher Medialisierungen, um dann für die Polyphem-Episode einen ausgereiften Unterrichtsvorschlag zu entwerfen. Sehr viel ausführlicher wird der Arminius-Mythos in Kopplung mit der literarischen Figur des Siegfried behandelt und bis in die Gegenwart verfolgt, was als Beispiel für die Überhöhung und Instrumentalisierung einer historischen Person gilt, aber ebenso für die in der Gegenwart andauernden deutschen Mytheme Einheit und Freiheit (teutsche Libertät contra spanische Servitut) stehen kann.
Als außereuropäischer Mythos wird die Legende von den "weißen Göttern" der Azteken kenntnisreich vorgeführt, während als aktuelles Beispiel eines Verschwörungsmythos die vor allem in sozialen Medien kursierende Behauptung des Great Replacement dient, dessen rassistische Basis aufgezeigt wird. Hinz empfiehlt als didaktischen Ansatz zur Dekonstruktion einen Vergleich mit historisch erwiesenen Verschwörungen und einen quellenkritischen Ansatz.
Zahlreiche Materialvorschläge auch aus der aktuellen Geschichtskultur, Bild- und Textquellen, ein Mythenverzeichnis, Literaturhinweise auf den klassischen Kanon (Karl Lachmann ist indes Philologe, nicht Übersetzer von Wolfram von Eschenbachs Parzival) und Register machen die Monographie jenseits der anregenden Lektüre unterrichtspraktisch dauerhaft nutzbar.
Sie verortet sich, wie gezeigt, in den Forschungen zur Narrativität und Geschichtskultur, zu welcher der Verfasser zusammen mit Andreas Körber ein Handbuch vorgelegt hat. [6] Sie überzeugt durch gediegene, auch historische Recherche. Felix Hinz kennt die Tiefen und Untiefen vergangener und aktueller Geschichtskultur und schreckt vor der Nennung von echten Kontroversen und Debatten nicht zurück.
Anmerkungen:
[1] Erste Überlegungen dazu: Felix Hinz: Historische Mythen - typologischer Zugriff und Vorschläge für den Geschichtsunterricht, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 16 (2017), 150-166.
[2] Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, 82-84.
[3] Frank R. Ankersmit: Historical Representation, Stanford 2001, 75-103.
[4] Rolf Schörken: Geschichte in der Alltagswelt, Stuttgart 1981.
[5] Eric Voegelin: Historiogenesis, in: Ders.: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1966, 79-116, 355f. (zuerst 1960).
[6] Felix Hinz / Andreas Körber (Hgg.): Geschichtskultur - Public History - Angewandte Geschichte. Geschichte in der Gesellschaft. Medien, Praxen, Funktionen, Göttingen 2020.
Stefan Benz