Jana Breßler u.a. (Hgg.): Stadtwende. Bürgerengagement und Altstadterneuerung in der DDR und Ostdeutschland (= Forschungen zur DDR- und ostdeutschen Gesellschaft), Berlin: Ch. Links Verlag 2022, 319 S., 150 Abb., ISBN 978-3-96289-163-3, EUR 25,00
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Der fortschreitende Verfall der historischen Altstädte in der DDR bildete in den 1980er Jahren einen wichtigen Baustein der Legitimationskrise des SED-Regimes. Die Partei wollte sich eigentlich an ihren Erfolgen bei der Lösung der Wohnungsfrage messen lassen. Doch immer mehr führten die maroden Altstädte offenkundig vor Augen, dass dieser Anspruch der sozialistischen Wirklichkeit nicht standhielt. Das Regime setzte einseitig auf den industriellen Wohnungsbau in Fertigbauweise, während die alte Bausubstanz vielerorts verfiel. Aus Protest bildeten sich in mindestens zwanzig Städten Bürgergruppen, deren zivilgesellschaftliches Engagement zu den Protestbewegungen der Friedlichen Revolution gehörte. Der Verfall der Altstädte trug somit zur "Wende" von 1989/90 bei.
Zugleich war die Hinwendung zu den Altstädten ein Teil des übergreifenden städtebaulichen Wandels, der sich seit den 1970er Jahren in vielen europäischen Städten zeigte. Die Nachkriegsmoderne kam in eine tiefe Krise. Stattdessen wurde dem Erhalt der alten Bausubstanz wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Eine wichtige Zäsur bildete in diesem Zusammenhang das europäische Denkmalschutzjahr 1975, auf das viele Projekte zum Erhalt historischer Altstädte zurückgingen. Auf die "Kahlschlagsanierung" folgte nun die "behutsame Stadterneuerung". Dieser Paradigmenwechsel machte auch vor der DDR nicht halt. Der Protest gegen den Altstadtverfall, ein fachlicher Reformdiskurs und einzelne Erhaltungsmaßnahmen signalisierten bereits vor der politischen "Wende" von 1989/90 eine "Wende" im Städtebau.
Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Sammelbandes versuchen, diese beiden Prozesse gemeinsam in den Blick zu nehmen und auf diese Weise einen konstruktiven, interdisziplinären Dialog zwischen der zeithistorischen Forschung und der Stadtplanungsgeschichte anzustoßen. Im ersten Teil werden die Entwicklungen der sogenannten Stadtwende in den größeren historischen Kontext eingeordnet. Max Walch Guerra beschreibt die Krisen der Wachstumsgesellschaft, auf welche die DDR-Führung keine Antwort fand, weil sie sich fest dem industriellen Wohnungsbau verschrieben hatte. Hieraus resultierte eine Pfadabhängigkeit, die die DDR bis in die 1980er Jahre nicht mehr überwinden konnte. Harald Engler betrachtet diese Resilienzunfähigkeit des SED-Regimes aus gesellschaftshistorischer Perspektive und beschreibt die Bürgergruppen gegen den Altstadtverfall als Teil der anwachsenden systemkritischen Masse, während Andreas Butter einen ausdifferenzierten Blick auf den Wandel der städtebaulichen Leitbilder in der DDR bietet.
Die Altstadtpolitiken der DDR stehen im Zentrum des zweiten Teils. Harald Kegler widmet sich einem frühen Modellvorhaben in Greifswald, das er als "erste Stadtwende" charakterisiert, während Jannik Noeske zeigt, dass die Gründe für den Altstadtverfall in der DDR vielfältig waren und bereits seit den 1950er Jahren vor ihm gewarnt wurde. Jana Breßler blickt in ihrem Beitrag hingegen auf das Modellstadtprogramm, das Ende 1989 ins Leben gerufen wurde, um im deutsch-deutschen Austausch ausgewählte Altstädte zu retten.
Der dritte Teil des Bandes widmet sich dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen den Altstadtverfall. So beschreibt Julia Wigger die Zusammensetzung und die Ziele der Bürgergruppen, die sich im Laufe der 1980er Jahre bildeten. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Gesellschaft für Denkmalpflege, die bereits 1977 unter dem Dach des Kulturbundes entstand, wie Sven Kröber in seinem Beitrag über die Leipziger Volksbaukonferenz zeigt. Fridtjof Florian Dossin analysiert wiederum die DDR-Zeitschrift "Kultur und Heim", die Ratschläge zum eigenständigen Ausbau von Altbauwohnungen gab, was punktuell zum Erhalt der alten Bausubstanz beitrug.
Neben dem Bürgerengagement gegen den Altstadtverfall trug zur "Stadtwende" auch der fachliche Reformdiskurs bei, dem der vierte Teil des Bandes gewidmet ist. Eine Schlüsselrolle kam hierbei der Hochschule für Architektur und Bauwesen (HAB) in Weimar zu, die ihrer Zeit weit voraus gewesen sei, wie Frank Peter Jäger und Holger Schnitt mit etwas hagiographischer Tendenz konstatieren. An der HAB wurde auch Stadtsoziologie gelehrt. So absolvierten die Studierenden in Anlehnung an die "Chicago School of Sociology" kommunale Praktika vor Ort, wie Wiebke Reinert in ihrem wissensgeschichtlich angelegten Beitrag beschreibt. Jana Breßler und Detlef Kurth zeigen, dass es allen politischen Hindernissen zum Trotz bereits vor 1989 einen deutsch-deutschen Fachaustausch gab, etwa zwischen dem DDR-Chefarchitekten Hermann Henselmann und dem Chef der IBA-Alt in West-Berlin, Hardt-Waltherr Hämer. Hier werden die historischen Akteure besonders sichtbar, die in dem Band ansonsten etwas blass bleiben.
Im fünften Teil schildern Benjamin Eckel, Constanze Kummer und Caroline Kauert drei Fallbeispiele der Stadterneuerung in Halberstadt, Meißen und Erfurt, während im sechsten Teil des Bandes auf einige komplementäre Angebote des Forschungsprojekts eingegangen wird. So entstand im Rahmen des "Stadtwende"-Projekts eine interaktive Website, die als wegweisendes Beispiel eines gelungenen Forschungsdatenmanagements gelten kann. Die Kuratoren Thomas Fischer und Holger Schmidt beschreiben die begleitende Wanderausstellung, die in zehn ausgewählten ostdeutschen Städten gezeigt wurde. Das Besondere daran war, dass vor Ort stets ein zusätzliches Ausstellungsmodul die Entwicklungen in der jeweiligen Stadt vorstellte. Auf diese Weise trat die bemerkenswerte Ausstellung in den Dialog mit der jeweiligen Stadtgesellschaft. Das ist besonders wichtig, weil die "Stadtwende" der 1980er Jahre ein zivilgesellschaftliches Projekt gewesen ist.
Mit dem Fokus auf dem bürgerschaftlichen Engagement in der späten DDR leistet der Band eine wichtige Pionierarbeit. Er macht deutlich, dass die "Stadtwende" zur politischen "Wende" von 1989/90 beitrug. Auf diese Weise ergänzt der Band das Verständnis von den Triebkräften der Friedlichen Revolution um einen Faktor, der bislang oft vernachlässigt wurde. Die Autorinnen und Autoren des Bandes verstehen ihre Forschungsergebnisse dezidiert als Beiträge zu einer "Langen Geschichte der 'Wende'", die nach den längeren Linien des Umbruchs von 1989/90 fragt und hierfür den Zeitraum von 1970 bis 2000 betrachtet. Insbesondere für die Vorgeschichte des Umbruchs nimmt der Band eine wichtige Perspektiverweiterung vor. Und auch für die Phase des Übergangs im Jahr 1990 bietet er spannende Befunde an, etwa mit Blick auf das Modellstadtprogramm in fünf ostdeutschen Städten. Dagegen bleibt es oft nur bei vagen Ausblicken auf die anschließende Transformationszeit in den 1990er Jahren, in der zwar der Altstadtverfall gestoppt wurde, aber die meisten Bürgergruppen rasch zum Erliegen kamen, wie wiederholt mit einigem Bedauern festgestellt wird. Lediglich im abschließend dokumentierten Gespräch mit den Mitgliedern des Fachbeirats werden die widersprüchlichen Entwicklungen in den sanierten ostdeutschen Altstädten auf kontroverse Weise angeschnitten. So vergeben die Herausgeber ein wenig die Chance, einen Beitrag zur aktuellen Debatte über den Transformationsprozess in Ostdeutschland seit den 1990er Jahren zu leisten.
Der Band bietet eine Reise in eine Zeit, in der Gentrifizierung noch ein Fremdwort war. Er ist sorgfältig gestaltet und reich bebildert. Allerdings dienen die meisten Fotografien und Pläne ausschließlich zur Illustration und werden im Text kaum aufgegriffen. Hier wäre eine dezidiertere Auseinandersetzung mit dem historischen Bildmaterial im Sinne einer Visual History wünschenswert gewesen, zumal die visuelle Dokumentation des Altstadtverfalls in den 1980er Jahren maßgeblich zur Delegitimation des SED-Regimes beitrug. Es fehlt zudem ein Ortsregister, um an die verschiedenen Schauplätze der "Stadtwende" zu navigieren. So sind viele Fallbeispiele in den einzelnen Beiträgen etwas versteckt. Dabei ist genau das breite Spektrum der untersuchten Altstädte das große Pfund des Projekts, das die "Stadtwende" erstmals systematisch in der Fläche untersucht und auf diese Weise weit über Ost-Berlin hinausblickt. Die Hauptstadt der DDR kommt im Band nur am Rande vor. Das ist nur konsequent, denn der Altstadtverfall in der DDR resultierte nicht zuletzt aus der eklatanten Bevorzugung Ost-Berlins, wodurch den Bezirken viele Ressourcen entzogen wurden. Mit seinem breiten Fokus auf die Provinz leistet der Band somit ein wenig "historische Gerechtigkeit" und entwickelt einen differenzierten Blick auf die ostdeutsche "Stadtwende". An ihm kommt die Forschung zur späten DDR nicht mehr vorbei.
Hanno Hochmuth