Marco Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel. Sozialgeschichte einer Musikkultur in den langen 1980er Jahren (= Studien zur Popularmusik), Bielefeld: transcript 2023, 658 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8376-6941-1, EUR 66,00
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Stellungnahme von Marco Swiniartzki mit einer Replik von Elena Bös
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Die Metal Studies haben seit geraumer Zeit ein Feld etabliert, in dem Forschende aus verschiedenen Disziplinen in regem Austausch miteinander stehen. Dabei sind Beiträge aus der Geschichtswissenschaft - trotz der einen oder anderen Neuerscheinung - bislang eher unterrepräsentiert. Marco Swiniartzki leistet mit seiner breiten Sozialgeschichte nun einen Beitrag, der sowohl Metal-Interessierten wie auch Historikerinnen und Historikern einen detaillierten Überblick über die Entstehung dieser Musikkultur bietet.
Heavy Metal ist für Swiniartzki Teil des "erklärungsbedürftigen sozialen Wandel[s]" und wird von ihm anhand der "vergemeinschaftenden Eigenschaften des Musikkonsums" entlang der Kategorien "race, gender und place" (36) analysiert. Seine Intention ist es, eine "regional vergleichend-verflechtende Gesellschaftsgeschichte" (39) zu schreiben, basierend auf einer Fülle unterschiedlicher Quellen, darunter Fanzines, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, (Auto-)Biografien, Interviews und andere Ego-Dokumente. Er vergleicht gewissermaßen glokal die "sieben wichtigsten" Szene-Räume der "'westlichen' Metal-Entwicklung" (54) - England, das Ruhrgebiet, die San Francisco Bay Area, den US-amerikanischen Nordosten, Florida, Schweden und Norwegen. Die Eckpunkte seines Untersuchungszeitraums der "langen 1980er Jahre" reichen von der Entstehung der New Wave of British Heavy Metal um 1978 bis zum Ende des Norwegian Black Metal 1995. Statt chronologisch zu erzählen hat der Historiker an der Universität Jena aber die gute Wahl getroffen, seine Untersuchung thematisch zu gliedern.
Zwei Kapitel knüpfen an die Deindustrialisierungsforschung an, indem sie die materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen der Musikkultur anhand von class und place (188) thematisieren. Dabei wird zum einen klar, wie eine "spezifische imaginierte Version der working-class-Kultur mit der musikalischen Vergemeinschaftung" (119) zusammenhing: Die Erwerbsbiografien von Musikerinnen und Musikern wie jene der Fans sind materiell "mit dem Strukturwandel verbundenen Aufstiegsvorteile[n]" (103) verknüpft. Dies verdeutlicht der imaginierte Charakter angeeigneter habitueller working-class-Marker wie "die ostentative Männlichkeit, das Trinkverhalten und der 'community'-Gedanke" (143). Zum anderen wird eine ortsspezifische Kontingenz deutlich: Die Suche nach Gemeinschaft verlief in den verschiedenen Ballungsräumen aufgrund divergierender infrastruktureller Angebote sehr unterschiedlich, so dass nicht von einer Metal-Szene gesprochen werden kann.
Ein Kapitel fokussiert auf die Band als kleinteilige Einheit der Kultur, in der das "inhärentes Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv" (244) sichtbar wird. Ein anderes knüpft mit seiner Untersuchung der ambivalenten Kommerzialisierung durch unternehmerische Strukturen von Musik-Labeln daran an, deren Akteure sich "in einem Spagat widersprüchlicher Handlungsmaximen mit doppelseitigem Rechtfertigungsdruck befanden". (518) Aspekte wie Anspruch an Authentizität und Distinktion durch immer extremere Transgression musikalischer Grenzen (gemäß dem Motto lauter, schneller, härter) werden im Zuge der steigenden Professionalisierung und Kommerzialisierung erfolgreicher Bands wie Metallica, Kreator oder Iron Maiden ebenso festgestellt wie der damit zusammenhängende Wandel des Fan-Verhaltens, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Hier wird Metal genre-übergreifend mit dem Punk verglichen, der laut Swiniartzki einen "Einzug neuer Körperlichkeit" (365) einläutete. Dass sich Szene-Angehörige dieser beiden Genres trotz einiger Gemeinsamkeiten vermehrt als "idealisierte Feindbilder" (334) betrachteten, wirft die Frage nach einer "Vergemeinschaftung ex negativo" (476) auf.
Der Autor lässt die Gretchenfrage der Metal Studies nicht aus, nämlich wie die im Gegensatz zum Punk oft als unpolitisch gelesene Metal-Kultur sich hinsichtlich politischer Fragestellungen positioniert. Er schlägt eine Erweiterung der bislang in der Forschung akzeptierten Haltung einer "reflexive anti-reflexivity" vor: Dieses Paradigma sollte um den Typus des "reflexiven" Metal-Musiker (377) erweitert werden. Da Songtexte "keinen guten Gradmesser für die Politisierung eines Individuums darstellen" (377), plädiert Swiniartzki für eine differenziertere Untersuchung. Er resümiert diese unter einer "fakultative[n] Politikhaftigkeit" (348). Dabei bewertet er die gewalttätigen Exzesse, etwa Brandstiftungen in Kirchen und durch Bandmitglieder verübte Morde, der ersten Welle des (als satanistisch rezipierten) Norwegian Black Metal in euphemistischer Weise als "Einzelfall einer außer Kontrolle geratenen sozialen Distinktionsspirale" (511), und auch heute noch relevante rechtsextreme Ausläufer der Metal-Kultur wie National Socialist Black Metal als Ausläufer eines "undurchdachten jugendlichen Disktinktionsreflex[es]" (239). Hier zeigen sich die Grenzen einer Interpretation, die strukturelle Missstände wie Sexismus und Rassismus vor allem kontextbezogen und individualisiert sieht.
In der in der Forschung breit diskutierten feministisch-kritischen Perspektive auf die Frage nach Gender im Metal sieht Szwiniartzkis "historisierender Blick" (262) ebenfalls einige relativierende Elemente, welche durch eine "Flexibilisierung von Gender-Mustern" (372) trotz eines insgesamt vorherrschenden "patriarchalische[n] Rollenbild[es]" (108) die Vorwürfe von strukturellem Sexismus teilweise entkräften sollen. Denn in seinen Augen gehen sie teilweise "deutlich über den Rand des Statthaften in der akademischen Debatte" (262). Dies steht in einem gewissen Widerspruch zu seiner Kritik der Ahistorizität in der bestehenden Sekundärliteratur, die zusammen mit der persönlichen Nähe etlicher Forschender zu einer problematischen Reproduktion "der [emanzipatorischen] Gründungserzählung des Genres" (26) führe. Schließlich steht eine kritische Betrachtung politischer Problematiken, die mit einer unkritischen Zelebrierung dieser Gründungserzählung zusammenhängen, im Zentrum etlicher dieser Arbeiten. Ebenso wäre eine eigene Positionierung gegenüber dem Forschungsgegenstand als ein Forscher, der sich gleichzeitig als Metal-"Fan" (59) versteht, über die Reflexion der vereinfachten Interviewsituation hinaus wünschenswert gewesen.
Dennoch leistet diese Studie einen wertvollen Beitrag zu den Metal Studies wie auch der Transformationsgeschichte. Neben einigen Redundanzen werden Argumentationslinien klar verfolgt. Am überzeugendsten gelingt die historisierende Perspektive, wenn Quellenkritik hinsichtlich der Bedeutung für die szene-interne Narration angewandt wird. So ist Swiniartzkis Fazit durchweg überzeugend, in dem er Metal als eine eigene Erinnerungskultur infolge einer imaginierten Konstruktion zusammenfasst. Diese Erinnerungskultur spiegelt in ihrer globalen gemeinschaftlichen Form nicht nur die soziale Transformation zwischen Deindustrialisierung und Digitalisierung wider, sondern hat ihrerseits diese Transformation auch innerhalb ihrer Räume mitgeprägt.
Elena Bös