Ingo Elbe: Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der »progressive« Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung (= Critica Diabolis; Bd. 328), Berlin: Edition Tiamat / Verlag Klaus Bittermann 2024, 408 S., ISBN 978-3-89320-314-7, EUR 28,00
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Seit Frühjahr 2020 tobt eine häufig als "Historikerstreit 2.0" bezeichnete Debatte unter Intellektuellen verschiedener Disziplinen, die sich an der Kritik an dem postkolonialen Philosophen Achille Mbembe entzündete. Diesem wurde vorgeworfen, Israel das Existenzrecht abzusprechen und die Shoa zu relativieren. In der Folge wurden viele Texte veröffentlicht, die Mbembe wahlweise verteidigten oder kritisierten. Vertreterinnen und Vertreter der postkolonialen Strömung wie Dirk Moses attackierten dabei die deutsche Erinnerungskultur an die Shoa, die Vergleiche mit Kolonialverbrechen nicht zulasse und den Kampf gegen Rassismus systematisch marginalisiere, um Kritik an Israel unmöglich zu machen [1]. Zu dieser Debatte liefert der Philosoph Ingo Elbe nun einen neuen Beitrag: Seine Monografie "Antisemitismus und postkoloniale Theorie" geht von der These aus, dass die "antiisraelische Radikalisierung erheblicher Teile des öffentlichen Diskurses" (8) auf postkoloniale Theorien und ihre Dominanz im akademischen Bereich zurückzuführen sei, und bemüht sich, deren "ideologische Grundlage" (29) in Form eines einführenden Überblicks herauszuarbeiten. Die Studie widmet sich vier verschiedenen Problemfeldern postkolonialer Theorien und geht dabei methodisch in doppelter Weise vor: Die zentralen Aussagen unterschiedlicher Stimmen dieser Strömung werden einerseits in Gestalt einer Art Faktencheck mit der empirischen Realität abgeglichen, andererseits auf ihre theoretischen Voraussetzungen und damit zusammenhängenden logischen Inkonsistenzen und realitätsverzerrenden Wahrnehmungs- und Deutungsmustern geprüft.
So widmet sich der erste Abschnitt der "[b]egriffliche[n] Eliminierung des Antisemitismus" durch postkoloniale Theorien, die Antisemitismus unter Rassismus subsumieren (33-81). Elbe konturiert trotz vorhandener Parallelen die substanziellen Unterschiede zwischen beiden Phänomenen wie jenen, dass im Antisemitismus die Vernichtung Ziel und logische Konsequenz sei, im Rassismus jedoch ökonomische Ausbeutung und die Stabilisierung von Herrschaft, während Vernichtung eine Option bleibe. Die mangelhafte Konzeption eines Antisemitismusbegriffs durch postkoloniale Theorien führe in weiterer Folge dazu, dass - trotz und letztlich gerade wegen der Subsumption des Antisemitismus unter Rassismus - Jüdinnen und Juden wieder aus dem Raster des antirassistischen Blicks fallen würden und als mächtig, privilegiert und von der "weißen" Mehrheitsgesellschaft nicht zu unterscheiden imaginiert würden. Zu Recht weist Elbe auf die dadurch vollzogene Reproduktion klassisch antisemitischer Topoi einer unsichtbaren jüdischen Übermacht hin.
Der nächste Abschnitt widmet sich dem Aspekt der Holocaustrelativierung. Viele Vertreterinnen und Vertreter postkolonialer Studien zweifeln die Singularität der Shoa an, die als koloniales Verbrechen neben vielen anderen gedeutet wird. Laut Elbe liegt ihre Spezifik vor allem in ihrer ideologischen Voraussetzung, dem Antisemitismus, der auf die Vernichtung sämtlicher Jüdinnen und Juden abzielt. Im Unterschied zu kolonialen Genoziden lasse sich die Shoa daher nicht auf zweckrationale Erwägungen zurückzuführen, sondern sei irrational. Das fehlende Konzept zur Erfassung des Antisemitismus durch die postkolonialen Theorien führe aber zur Verkennung der Spezifik der Shoa. Postkolonialen Theoretikerinnen und Theoretiker erscheint sie als Genozid unter vielen, der unverdient viel Aufmerksamkeit erhalte; den Jüdinnen und Juden werden ein "Opferprivileg" und ein "partikularistisches Auserwähltheitsdenken" (101) unterstellt, um Apologie für die israelische Politik zu betreiben. In verschwörungsideologischer Manier vermute der Postkolonialismus dies hinter dem Shoa-Gedenken; antisemitische Stereotype würden auch hierbei reproduziert.
Der "Dämonisierung Israels" wird der nächste Abschnitt gewidmet. Elbe konstatiert, dass "[w]er keinen Begriff von Antisemitismus hat und die Spezifik der Shoah einebnet, [...] auch keine Sensibilität für die Notwendigkeit des Zionismus und des jüdischen Staates entwickeln" könne (169). Stattdessen würden postkoloniale Theorien die jüdische Identität zu einer Chiffre für Migration, Universalismus und Kosmopolitismus "metaphorisier[en]" (172). Dadurch würde nicht nur das antisemitische Stereotyp der jüdischen Wurzellosigkeit reproduziert, wenn auch "positiv" gewendet, sondern der jüdische Staat als Verrat am Wesen eines solcherart verstandenen Judentums gedeutet. Elbe verweist zudem auf die Deutung Israels als Kolonialstaat oder Aggressor im Nahostkonflikt und auf die Bedeutung des islamischen Antisemitismus zum Verständnis dieses Konflikts.
Der letzte Abschnitt firmiert unter dem Titel "Der postkoloniale Blick auf die 'Anderen'" und widmet sich der Umgestaltung legitimer rassismuskritischer Motive in eine systematische "De-Thematisierung des Islams", die ursächlich für die Verkennung des islamischen Antisemitismus sei. Neben der Auseinandersetzung mit inneren logischen Widersprüchen postkolonialen Theorien wie ihrer pauschalen Essentialisierung des Westens, während sie zugleich jegliche Essentialisierung des Islams zurückweisen, verweist Elbe auf ihren eurozentrischen Paternalismus. Dieser exkulpiere beispielsweise islamistischen Terror als Reaktion auf Diskriminierung und Unterdrückung und nehme dessen ideologische Verlautbarungen nicht ernst.
Das Verdienst der Studie ist es, auf logische wie methodische Unzulänglichkeiten des im akademischen Betrieb breit rezipierten Theoriegebäudes des Postkolonialismus hinzuweisen, das offenkundig einer politischen, antizionistischen Agenda folgt. Dass es sich bei den behandelten Texten nicht um isolierte Einzelfälle handelt, zeigt die breite Zahl der Autorinnen und Autoren, mit denen sich Elbe auseinandersetzt: Neben Mbembe oder Moses widmet sie sich auch Gelehrten wie Edward Said, Frantz Fanon, Judith Butler und vielen anderen. Gerade die aufgezeigten Parallelen zu ethnopluralistischen Konzepten der extremen Rechten, auf die postkoloniale Theorien laut Elbe bisweilen affirmativ Bezug nehmen, verdeutlichen ihr Gefahrenpotential. Dabei gelingt es Elbe, trotz der deutlichen Kritik, einer reaktionären Polemik gegen jedweden Antirassismus nicht das Wort zu reden. Der Anspruch des Buches ist es, "den gegenwärtigen Antirassismus von seinen antisemitischen Gehalten zu befreien" (17) - und diesen zieht es auch durch. Irritierend sind nur vereinzelte polemische Seitenhiebe wie der Neologismus "Volkspädagogikgemeinschaft" für verschiedene Angriffe auf das deutsche Shoa-Gedenken (129); die offensichtliche Angleichung an NS-Vokabular erscheint unnötig und lenkt aufgrund ihrer Schärfe von der inhaltlich überzeugenden Kritik ab.
Anmerkung:
[1] Vgl. dazu Frank Bajohr / Rachel O'Sullivan: Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus. Forschung im Schatten einer polemischen Debatte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 70/1 (2022), 191-202.
Andreas Rentz