Nils Güttler: Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen (= Historische Wissensforschung; Bd. 24), Göttingen: Wallstein 2023, 472 S., 2 Farb-, 39 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5381-7, EUR 38,00
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Mit "Nach der Natur" legt Nils Güttler eine erkenntnisreiche Habilitationsschrift an der Schnittstelle von Umwelt- und Wissensgeschichte vor, die mit dem Frankfurter Flughafen einen bisher weitgehend unbeachteten Ort der Genese von Umweltwissen im 20. Jahrhundert ins Blickfeld rückt. Güttler geht aus von jüngeren Ansätzen der Umweltgeschichte, die die menschliche Umgebung nicht mehr im Sinne einer essentialistisch vorgegebenen Natur, sondern als wandelbare, von menschlichen Vorstellungen und Praxen mitkonstituierte Um-Welt auffassen. Statt deren Genese jedoch primär auf einer übergeordneten, ideengeschichtlichen Ebene nachzuzeichnen, fragt Güttlers "politische Umweltwissensgeschichte" - und darin liegt deren Innovativität - nach den konkreten Orten jener Wissensproduktion, die gegenwärtige Umweltvorstellungen mitgeprägt hat bzw. überhaupt denk- und artikulierbar machte. Ausgangsthese der vorliegenden Studie ist, dass gerade in einem für das Anthropozän höchst charakteristischen "Grenzgebiet" (21) wie der Frankfurter Flughafenlandschaft, in der globale und regionale, natürliche und kulturelle Faktoren miteinander interagierten, Umweltwissen generiert und geprägt worden sei.
Als Produzenten jenes Wissens stellt Güttler dazu die von ihm so benannten "Mesowissenschaften" (8) ins Zentrum der Untersuchung: Regional geprägte Formen anwendungsorientierter Wissenschaften wie die Infrastrukturwissenschaften, die Raumordnung und Regionalplanung sowie die Meteorologie und die sich formierenden Umweltwissenschaften im Allgemeinen, aber auch das von konkurrierenden Akteuren wie Naturschutzverbänden produzierte und teils politisierte Gegenwissen. Güttler versteht es, mit der Kategorie Mesowissenschaften den Bogen zu schlagen von seiner Ausgangsthese zur konkreten Fallstudie der Umweltwissensproduktion am Frankfurter Flughafen, die ausgesprochen geeignet ist, um die mesowissenschaftliche und infrastrukturelle Lücke in bisherigen wissens- und umwelthistorischen Arbeiten aufzuzeigen und an einem gewichtigen Beispiel zu schließen.
Der Autor erzählt die Genese und Genealogie von Umweltwissen am Frankfurter Flughafen in vier maßgeblich chronologischen Kapiteln, die sich auf jeweils einen Wissenskomplex und dessen mesowissenschaftliche Akteursgruppen fokussieren. Im ersten Kapitel "Heimat und Verkehr (1895-1936)" schafft er ein faszinierendes Panorama, das Inhalt und Erkenntnispotential der Mesoebene veranschaulicht. Dem Leser begegnen hier neben Meteorologen, Paläontologen und Archäologen auch Blüten- und Schneckenspezialisten sowie weitere Pioniere der "Heimatgeographie" (30), die im ersten Jahrhundertdrittel mit der Konzeption der Raumvorstellung "Rhein-Main" und der Bereitstellung von infrastrukturellem Wissen wesentliche Grundlagen für den Bau des Flughafens schufen. Die Analyse der Mesoebene erlaubt Güttler die Wechselwirkungen zwischen naturwissenschaftlicher Heimatkunde als Teil der Heimatbewegung und der infrastrukturellen Erschließung der Region im Rahmen der aufkommenden Regionalplanung darzustellen, die seine These eines "'Infrastrukturell-Werdens' der Naturgeschichte im frühen 20. Jahrhundert" (35) überzeugend fundieren.
Erklärt das erste Kapitel die regionale Genese der Verschränkung von Umweltwissen und Infrastrukturentwicklung im Rhein-Main-Gebiet, so tritt im zweiten Kapitel "Himmel (1909-1960)" eines ihrer wesentlichen Resultate ins Zentrum der Analyse: der Flughafen als regionaler Akteur. Güttler stellt hier dessen frühe Rolle bei der wissenschaftlichen Erschließung des Luftraums, der "Ausweitung der Umwelt in die Vertikale" (111), heraus. Seit der Zwischenkriegszeit, so eine zentrale Erkenntnis, stieg der Frankfurter Flughafen zu einem essenziellen Ort und Akteur für die Nachfrage, infrastrukturelle Erschließung und Generierung von meteorologischem Wissen auf. Da jene meteorologische Epistemologie den Grundstein für die klimatologische Forschung legte, kann Güttler den Frankfurter Flughafen als aktiven Produzenten von Klimawissen im 20. Jahrhundert beschreiben.
Doch auch zur Entstehung der modernen, interdisziplinären Umweltwissenschaften hat der Frankfurter Flughafen beigetragen, wie man im dritten Kapitel "Flüsse (1945-1972)" erfährt. Die vieldimensionale Expansion des Flughafens habe demnach in den 1950er und 1960er Jahren zu einer Verwebung von Landschaft und Infrastrukturen geführt, die zu einer ebenso neuartigen mesowissenschaftlichen Wissensproduktion aufforderte: dem "Management von Natur in Infrastrukturen und technischen Umwelten" (222). Güttler stellt hier den bislang wenig beachteten "praxisnahe[n] Wissenszweig" (222) der Flughafenökologie heraus, die im Verbund mit klassischen regionalen Akteuren des Naturschutzes zunehmend einen umweltwissenschaftlichen Ökosystemansatz ausbildete. Es waren also technische Infrastrukturlandschaften wie die des Frankfurter Flughafens, so eine zentrale These, die die Vorstellung von Umwelt "als ein von Energie- und Informationsflüssen durchzogenes Ökosystem" (190) in der Nachkriegszeit überhaupt denk- und entwickelbar gemacht hätten.
Güttler unterstreicht dabei, wie auch Kritiker der Umwelteffekte des Flughafens - etwa im Bereich des Lärm- oder des Wasserschutzes - in den 1960er Jahren in den technisch-systematischen, ökologischen Ansatz des Flughafens einbezogen wurden. Diese Integration gelang aber, wie im letzten Kapitel "Wald (1966-1984)" gezeigt wird, in den 1970er Jahren immer weniger. Der Autor zeichnet hier die komplexe Allianz eines sich formierenden Gegenwissens im Rahmen der Startbahn-West-Proteste nach, deren Wissensgrundlagen der Flughafen in den vorangegangenen Jahren selbst (mit-)erzeugt hatte. Der Blick auf die Mesoebene erlaubt dabei einen erhellenden Einblick in die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen Umweltwissenschaften und Umweltbewegung zu jener Zeit: Kam es im Rahmen der Debatte um den Startbahnausbau anfangs zu einem "intensiven Dialog zwischen Natur- und Sozialwissenschaften" (274), der das Umweltwissen massiv ausweitete und seine institutionellen Formen teils langfristig prägte, so rückten die Umweltwissenschaften nach dem ausbleibenden Erfolg vor dem Hessischem Verwaltungsgerichtshof, der den Bau der Startbahn 1980 endgültig beschloss, und infolge vielversprechender Projektfinanzierungen durch Behörden und Flughafen seit den 1980er Jahren wieder zunehmend an die Seite der Infrastrukturbetreiber. Die These einer "Neoliberalisierung" (369) der Umweltwissenschaften in der jüngeren Zeitgeschichte, sprich ihrer projektbasierten und netzwerkartigen Strukturierung als Dienstleisterin des Infrastrukturmanagements, kann Güttler so im Epilog anschaulich erhärten.
Güttler ist es mit seiner Fallstudie zum Frankfurter Flughafen gelungen, die Fruchtbarkeit eines "neuen analytisch-deskriptiven Zugang[s] zur Geschichte der Wissenschaften der Umwelt" (14) aufzuzeigen. Seine Umweltwissensgeschichte ermöglicht es, anhand eines konkreten Ortes nachzuvollziehen, durch welche Akteure und in welcher manchmal geradezu paradoxen und stets höchst politisch-kontingenten Weise Umweltwissen im 20. Jahrhundert generiert wurde. Der konzeptionelle Ansatz und die Wahl des Orts führen dabei fast von selbst zur Verbindung ideeller und materieller sowie kultureller und natürlicher Aspekte der Umweltgeschichte. Daher sei das Buch nicht nur Forschenden der Umwelt- und Wissensgeschichte, sondern auch Interessierten aus benachbarten Disziplinen zur Lektüre empfohlen.
Maximilian Ringleb