Hans Joas / Wolfgang Neugebauer (Hgg.): Otto Hintze. Werk und Wirkung in den historischen Sozialwissenschaften (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; Bd. 346), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2024, V + 247 S., ISBN 978-3-465-04623-3, EUR 59,00
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Der vorliegende Sammelband enthält Papers von einer 2020 in Erfurt geplanten Tagung, die wegen der Pandemie ausfiel. Die Beiträge widmen sich dem Historiker Otto Hintze mit dem Ziel, wie Hans Joas in seiner Einleitung erklärt, "frische Impulse für die weitere Beschäftigung mit dem von Hintze behandelten großen Fragen zu geben" (4). Es deutet sich eventuell eine "neue" Hintze-Renaissance nach der Interessenskonjunktur vor fünfzig Jahren an. [1] Die Basis des neuen Interesses ist die 2015 von Wolfgang Neugebauer, dem Mitherausgeber dieses Bandes, veröffentlichte Biografie Hintzes, die Joas ohne Übertreibung als "das Maßstäbe setzende Werk für jede Auseinandersetzung mit Hintze" beschreibt (6). [2] Neugebauer ist es gelungen, das Leben und Werk Hintzes in gegenseitigen Kontexten beeindruckend zu analysieren und eine grundlegende Neubewertung der gezielten Entwicklung Hintzes vom Historiker des preußischen Staates und des europäischen und Weltreichsystems zum Pionier einer historischen Soziologie von globaler Relevanz zu bieten.
Sowohl die Struktur als auch die Anmerkungen des Sammelbandes feiern die Leistung Neugebauers. Die Beiträge fokussieren auf Hintzes Rolle in den Sozialwissenschaften, wobei die Thesen und Fragestellungen Neugebauers klar zum Vorschein kommen. Zwei Essays aus seiner eigenen Feder umrahmen die anderen Beiträge. Der Erste gibt eine Skizze der Biografie. Der Abschlussessay des Bandes behandelt die späten Betrachtungen Hintzes zum Entwicklungsgang der modernen Staatlichkeit in Richtung Globalität und Föderation - ein Leitthema der Biografie, gleichsam das politisch-räumliche Korrelat des von Hintze verfolgten Lebensprojekts einer integrativen Staats- und Gesellschaftslehre.
Die anderen Beiträge, die den Korpus des Bandes ausmachen, sortieren sich in zwei Hauptgruppen. Die erste befasst sich mit Hintzes Rezeption zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Theorien. Hinnerk Bruhns wendet sich den großen Rezensionen Hintzes aus den 1920er Jahre zu, in denen der Historiker unter anderen das Werk Max Schelers, Max Webers und Werner Sombarts einer kritischen Analyse unterzog. Wilfried Nippel bietet "Randbemerkungen" zu Hintzes "Randglossen" zum Marxismus. Hans-Christof Kraus' Diskussion der weltpolitischen Ansichten Hintzes sind zum Teil ein Vorgriff auf Neugebauers Schlussbemerkungen, beziehen sich aber auch auf Hintzes Verhältnis zum "Neorankeanismus" als Theorie des europäischen- beziehungsweise Weltstaatensystems.
Die zweite Hauptgruppe der Beiträge behandelt die Rezeption Hintzes in anderen Foren. In einem informativen Essay verweist Thomas Duve auf die weit verbreitete Unkenntnis, auf die die Ansätze Hintzes bis nach 1945 unter deutschen Rechtshistorikern stießen. Die Erklärung liegt größtenteils in der dogmatischen Eigenständigkeit der "rechtshistorischen Methode", ihrer Ablehnung nichtjuristischer Anstöße zur Politik- und Verfassungsgeschichte, seien diese auch, wie im Fall Hintzes, denkbar weitgefasst. Die interdisziplinäre und internationale Öffnung des juristischen Faches in Deutschland seit 1945 deutet aber auf weiteren juristischen Anschluss an Hintzes Werk.
Zwei weitere Beiträge, von Thomas Ertman und Philip Gorski, geben einen Überblick über die sozialwissenschaftliche Rezeption Hintzes in den USA, die durch Felix Gilberts Übersetzung von ausgewählten Essays 1975 erhebliche Förderung gewann. [3] Die Sammlung gab Rückenwind zu einem großangelegten soziologische Forschungsprojekt unter der Leitung Theda Skocpols mit dem Ziel "to bring the state back in". Kürzlich haben englischsprachige Sozialwissenschaftler es unternommen, Hintzes Forschungen zu quantifizieren. So hat man etwa versucht, Thesen, die er 1930 in dem Essay "Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung" vorlegte, anhand Datensätze und Regressionen zu bestätigen oder modifizieren. Seinen Einfluss in Amerika selbst hat man auch mittels Datensätzen erforscht. So kann Gorski anhand von Citation Indices zeigen, dass Hintzes Arbeiten bis September 2021 1.805 Mal von Politologen (einschließlich IR), 408 Mal von Soziologen zitiert wurden.
Der kritische 'Ausreißer' im Sammelband ist der Historiker Wolfgang Reinhard, den Hans-Ulrich Wehler 1999 ausgerechnet als "neuen Hintze" gepriesen hat. Kurz gefasst richtet sich die Kritik Reinhards auf Hintzes nicht vervollständigtes Projekt einer vergleichenden Verfassungsgeschichte im Zusammenhang mit einer allgemeinen Staatslehre, die Reinhard als "eine Politikwissenschaft auf historischer Grundlage über typische Erscheinungen und gleichförmigen Grundlagen des Staates" beschreibt (146). Für Hintze lag die Schwierigkeit dieses Vorhabens in seiner früh postulierten Gegenüberstellung, unter Primat des Ersteren, vom Individuum und Allgemeinen, von Freiheit und Kausalität, und von den jeweils dazu gehörenden historischen Methoden. Mit Individualität als Objekt forderte die Geschichte des Staates einen methodischen Zugang, der dem Vergleich und der Typisierung von historischen Gemeinsamkeiten entgegenstand. Reinhard weist auf die methodischen Hürden und Haken (den Staat als epistemologischen Konstrukt?), die die Vollendung von Hintzes großem Projekt komplizierten. So ergab sich "der offensichtliche Widerspruch zwischen den kohärenten Entwurf des Lebenswerks und dessen inkohärenter Verwirklichung". Und so stellt sich schließlich die Frage, ob Hintze nicht "an den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden" scheiterte (148).
Diese Frage bezieht sich auch auf den narrativen Aufbau von Neugebauers Biografie, die den kohärenten und konsequenten Fortschritt der Forschungsagenda Hintzes von den 1880er bis in die 1930er Jahre unterstreicht. Die große Zäsur kam sehr früh, um 1900, mit der Aufnahme der "Seeinteressen" und der Geschichte Englands in seinen Lehr- und Forschungsplan. Den Grundsätzen der Geschichtswissenschaft blieb er aber stets treu. Nach Neugebauers Sicht war das Scheitern Hintzes äußeren Zuständen zuzuschreiben: der Ausbeutung seiner Energien durch Gustav Schmoller und Friedrich Althoff, den Lasten der Seminar- und Fakultätsarbeit, dem Weltkrieg, vor allem der angeschlagenen Gesundheit, die zur Frühpensionierung führte, danach zur wachsenden beruflichen und politischen Isolierung und, nach 1933, Sorgen über das Schicksal seiner jüdischen Gattin.
Man könnte vielleicht sagen, Reinhard habe einen "Fleck" gefunden im "fast unbefleckt[en]" Hintze-Bild Neugebauers, hätte er nicht gleich Hintzes "Erkenntnis des eigenen Scheiterns" auch als Beweis für "die Größe dieses Riesen" angeführt (148). [4] Sollte man diese biografische "große Frage" im Lauf einer neuen Hintze-Renaissance wieder aufnehmen, würde das jedenfalls auch noch ein Verdienst Neugebauers darstellen.
Anmerkungen:
[1] Gerhard Oestreich (Hg.): Otto Hintze. Gesammelte Abhandlungen, 2. Auflage, 3 Bände, Göttingen 1962-7; Otto Büsch / Michael Erbe (Hgg.): Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft, Berlin 1983.
[2] Wolfgang Neugebauer: Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung 1861-1940, Paderborn 2015.
[3] Felix Gilbert (Hg.): The Historical Essays of Otto Hintze, New York 1975.
[4] Ewald Grothe: Rezension zu Wolfgang Neugebauers Otto Hintze, in: Jahrbuch politisches Denken, Bd. 26 (2016), 224.
Roger Chickering