Amanda Goodman / Suzanne Conklin Akbari (eds.): Practices of Commentary. Medieval Traditions and Transmissions (= The Medieval Globe), Leeds: Arc Humanities Press 2024, viii + 203 S., e-book, ISBN 978-1-80270-159-3, GBP 125,00
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Das meinungsstarke Kommentieren scheint eine allgegenwärtige Kulturpraxis unserer Tage zu sein - aber war es das auch in vergangenen Zeiten? In der mediävistischen Forschung jedenfalls wird der kritische Kommentar gerne als eine Errungenschaft der hochmittelalterlichen Scholastik und als ein Kernmerkmal europäischer Intellektualität angesehen. Der vorliegende Band hinterfragt dieses Narrativ, indem er Praktiken des Kommentierens transepochal und transkulturell in den Blick nimmt. Er ist als eines von mehreren Ergebnissen eines an der Universität Toronto angesiedelten Forschungsverbundes zu lesen, dessen Mitglieder sich nunmehr in Kooperation mit dem Institute for Advanced Study in Princeton mit der Geschichte des Buches in globalgeschichtlicher Perspektive befassen. [1]
Dieser Band beinhaltet Beiträge zu einem (als solchem verstandenen und chronologisch noch weiter gefassten) mittelalterlichen Jahrtausend. Er richtet seinen Blick geographisch vorwiegend auf die arabische Halbinsel und den asiatischen Kontinent.
In der Einleitung (1-8) erläutern die Herausgeberinnen konzise ihr Anliegen eines globalen Zugriffs auf die intellektuelle Geschichte, ebenso wie ihre Kategorien für die Analyse von Kommentaren. Diese können visuell, materiell und als soziale Praxis untersucht sowie anhand ihrer Funktionen kategorisiert werden, sei es, dass sie einen Selbst- oder Fremdbezug adressieren, sei es, dass sie einen semantisch repressiven oder transgressiven Charakter aufweisen, sei es, dass sie eine sprachliche, zeitliche und geographische, auch pädagogische Brückenfunktion erfüllen.
Lorenza Bennardo und Kenneth W. Yu befassen sich dann mit dem Kommentar in der griechischen und römischen Antike im Zeitraum vom 3. Jahrhundert v.Chr. bis zum 5. Jahrhundert n.Chr. Sie plädieren dafür, der Kommentartradition abseits der linguistisch-grammatischen Kommentarschule von Alexandria und ihrer Rezeption in Rom nachzuspüren, die Perspektive um allegorische Exegesen zu erweitern und den normativen Status der Alexandriner gegenüber einer Pluralität der Stimmen zu relativieren (9-27).
Roland Betancourt stellt dann mit Geodesia einen Text vor, den er als Kommentar zu einem mathematisch-geometrischen Handbuch im Anhang eines reich illustrierten militärischen Traktats (Poliorcetica) versteht, der in der Mitte des 10. Jahrhunderts in Byzanz entstand (29-48). Dabei fragt er nach Möglichkeiten und Grenzen der Betrachtung von Texten als Kommentaren, in ihrer Form (entweder direkt im oder am Bezugstext oder als zusammenhängende bzw. kompilierte Gesamttexte, in kleineren oder größeren Dimensionen), ihrer Semantik (Erweiterung des Wissens und Frage der Eigenständigkeit) wie auch in ihrem Einsatz von Illustration (Bilder, Diagramme). All dies habe hier eine Art Erzählstruktur (narrative arc) erzeugt.
Walid Ahmad Saleh schreibt über Periodisierung der mittelalterlichen Korankommentierungen. Er vergleicht forschungsgeschichtlich westliche genealogisch-wertende Zugriffe (früh/modern bzw. formativ/klassisch/reif/zeitgenössisch) mit Ansätzen in der arabischen Welt, die generational (Mohammed, seine Schüler...) oder an Gelehrtenpersönlichkeiten ausgerichtet waren, um dann für eine stärker historische Einordnung zu argumentieren, für die er die sich mit der Rechtskultur des 12. Jahrhunderts entwickelnden Glossierungen (ḥawāshī) als Wasserscheide ansieht. Vor diesem Hintergrund legt er einen Entwurf für eine achtgliedrige neue Periodisierung vor, die stärker von den Kulturtechniken des Kommentars her argumentiert (49-63).
Isabelle Ratié stellt Praktiken des Selbst-Kommentars im südasiatischen Raum in Sanskrit-Quellen im poetischen und normativen Bereich vor, die in religiösen und pädagogischen Zusammenhängen zuerst erscheinen. Sie konstatiert, dass bei ihnen neues Gedankengut unter dem Deckmantel der autoritativen Verwurzelung, des Spiels mit Auktorialität und Intertextualität "hineingeschmuggelt" wurde, in einem kulturellen Kontext, in dem das Konzept der Individualität anders aufzufassen ist als im hochmittelalterlichen Europa (65-90).
In direktem Anschluss und auf der Basis eines Kooperations-Lehrprojekts zwischen Toronto und der Manipal Academy of Higher Education in India, widmen sich Elisa Freschi, Jonathan Peterson und Ajay Rao vertieft dem Aspekt der Oralität in den philosophischen Werken in Sanskrit, insbesondere den Vedānta, in denen die Dimension gesprochener Sprache eine herausragende Bedeutung hatte (91-105).
Fedde M. De Vries wählt das Thema der buddhistischen Schriftauslegung am Beispiel einer Gruppe von Exegeten der Sui und Tang Dynastien und setzt einen Akzent auf Chengguan. De Vries ist es um eine Dekonstruktion zu tun, soll doch gezeigt werden, dass dessen Werk nicht im modernen Sinn "originell" gewesen sei. Hingegen sei es als Teil einer "particular scholastic world" anzusehen, einer globalen Scholastik, die gemeinsame Charakteristika in Buddhismus, Konfuzianismus, Christentum und Islam aufweise (107-137, hier 108).
Meghan Howard Masang und Amanda Goodman analysieren das Layout einer sino-tibetischen Kommentarhandschrift zum Lankavatara-Sutra, deren materielle Gestalt und Ordnungsstrukturen (u.a. elaborierte Kolumnensysteme mit Rubrizierungen und Textweisern) sie praxeologisch auf Indizien für ihre Entstehung aus Lehrsituationen und ihre Nutzbarmachung prüfen (139-169).
Den Schlusspunkt setzt ein Dreiergespann (Aslihan Gürbüzel, Sooyong Kim und Jeannie Miller), das sich mit der Rezeption arabischer und persischer Texte des Mittelalters im Kontext der Mehrsprachigkeit des Osmanischen Reichs bis in das 18. Jahrhundert befasst (171-194).
Bei der Lektüre des erfrischenden Bandes stößt man auf einige bekannte Stichworte: Rezeption, Übersetzung und Produktion, Philologie, Kanonbildung und Doxographie, Zusammenfassung, Glossierung, Kommentierung, Mise-en-page und Rationalisierung der Handschriftengestaltung, ferner das Spannungsfeld von Oralität und Schriftlichkeit in Schulen und Lehrsituationen, Gelehrsamkeit, in der Grammatik und Rhetorik eine besondere Rolle spielen: Die Hervorhebung dieser Kulturtechniken lässt ein Bild entstehen, welches einigen Kernpunkten der Scholastik des europäischen Mittelalters frappierend ähnelt; weniger deutlich erscheint mir aus den Fallstudien die Evidenz für eine kritische Kommentarkultur mit programmatischer Hinterfragung von Autoritäten hervorzugehen.
Wie dieser und weitere Bände, die aus dem Projekt hervorgegangen sind, aufzeigen, ist der global-komparative Ansatz für den Bereich der Intellectual History und der Book History vielversprechend und wäre weiter- und engzuführen. In der Hoffnung, dass somit weitere Forschungen angeregt werden, darf man unterdessen gespannt sein auf weitere "hidden stories" aus Toronto und Princeton.
Anmerkung:
[1] https://globalcommentary.utoronto.ca/ ; https://hiddenstories.library.utoronto.ca/ . Zu weiteren Ergebnissen siehe die jeweils von Christina Lechtermann und Markus Stock herausgegebenen Sammelbände: Practices of Commentary (= Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 24, 1/2, 2020), Frankfurt a.M. 2020 und Commenting and Commentary as an Interpretive Mode in Medieval and Early Modern Europe = Glossator 12, 2022 (https://glossator.org/).
Tobias Daniels