Thomas Raithel / Niels Weise: Für die Zukunft des deutschen Volkes. Das bundesdeutsche Atom- und Forschungsministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn 1955-1972, Göttingen: Wallstein 2022, 495 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5075-5, EUR 42,00
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Nachdem in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten bereits der NS-Belastung vieler Bundesministerien nachgespürt wurde, hat sich die Aufarbeitungsforschung auch dem Atom- und Forschungsministerium zugewandt. Anders als z.B. beim Außen-, Innen- oder Landwirtschaftsministerium gibt es beim 1955 gegründeten Atomministerium keine direkte Vorläuferorganisation, so dass es keine direkten Kontinuitäten zwischen Bundesrepublik und Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Staat aufzudecken gilt. Weder die Kernforscher des "Uranvereins" im Nationalsozialismus noch höhere Beamte des nationalsozialistischen Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung fanden ihren Weg in das Atom- und Forschungsministerium der Bundesrepublik. Darüber hinaus gibt es keine Personen, die mit nahezu dem gleichen Aufgabengebiet in mehreren politischen Systemen in der Ministerialverwaltung tätig waren, wie es beispielsweise im Innenministerium der Fall war. Hinzu kommt, dass sich die Zusammensetzung der Beamtenschaft im Atomministerium und seinen Nachfolgern signifikant von anderen Ministerien unterschied: Dominierten etwa im höheren Dienst des Innenministeriums Juristen, waren es im Atomministerium vor allem Naturwissenschaftler und Techniker, welche die Richtung vorgaben. Allerdings kommen Raithel und Weise zu dem Schluss, dass das Ausmaß der NS-Belastung, ob formal oder handlungsbedingt bzw. funktional, bei den Naturwissenschaftlern und Technikern ähnlich hoch war wie bei den Juristen. Der Mythos der angeblich unpolitischen bzw. unbelasteten Experten wird dadurch eindeutig widerlegt. [1]
Außerdem stellen Raithel und Weise wie schon andere Studien zur NS-Aufarbeitung fest, dass das formale Kriterium der NSDAP-Mitgliedschaft für die Definition von "NS-Belastung" zu kurz greift. Anhand des Staatssekretärs Wolfgang Cartellieri, der NSDAP-Mitglied war, aber vermutlich Kontakt zum militärischen Widerstand gegen Hitler hatte, wird dies deutlich. Vielmehr gilt es, auch Belastungen durch Handlungen und berufliche oder militärische Funktionen zu berücksichtigen, etwa als Beamte im Nationalsozialismus oder als Angehörige der Wehrmacht im Vernichtungskrieg. Daher plädieren Raithel und Weise für eine differenziertere Definition von "NS-Belastung", die nicht nur die formale NSDAP-Mitgliedschaft, sondern ebenso die vielfältigen individuellen biographischen Bezüge zur Zeit des Nationalsozialismus berücksichtigt.
Generell konstatieren Raithel und Weise im Falle des Atom- und Forschungsministeriums ein stark ausgeprägtes Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Neubeginn: NS-Belastungen, aber auch eine national-konservative Grundhaltung kontrastierten mit einem intensiven Zukunftsbezug im Selbstverständnis des Ministeriums.
In den frühen 1950er Jahren war die Kerntechnologie weltweit in den politisch-gesellschaftlichen Eliten ausgesprochen positiv besetzt. Besonders seit dem "Atoms für Peace"-Programm des US-amerikanischen Präsidenten Eisenhower schien sie eine Zukunft des unbegrenzten Wachstums, des Wohlstands und des Fortschritts zu verheißen. In der Bundesrepublik spielte auch die Furcht vor einem technologischen und wirtschaftlichen Rückstand gegenüber anderen Industriestaaten eine Rolle. Eine Furcht, die bis in die 1970er Jahre und weit darüber hinaus für die handelnden Personen sowohl in der Forschungs- als auch Kernenergiepolitik maßgeblich war. Wenn man die Gründung des Atomministeriums 1955 strategisch betrachtet, boten sich neben einer Teilhabe am "Füllhorn Kernenergie" weitere Vorteile: Tagespolitisch konnte Kanzler Adenauer durch die Gründung des Ressorts den aufstrebenden Franz Josef Strauß mit einem Ministersessel versorgen. Langfristig betrachtet eröffnete die Forschungsförderung auf dem teuren Gebiet der Kernenergie dem Bund die Möglichkeit, schrittweise den eigenen Einfluss in der Forschungspolitik auf Kosten der Länder auszudehnen.
Die Aussagen zu den inhaltlichen Aufgabenfeldern des Atomministeriums bieten allerdings nur wenig Neues. Die Schwerwasserreaktorentwicklung und die militärischen Implikationen der bundesdeutschen Atomforschung sind bereits mehrfach anderswo kontrovers diskutiert worden. Raithel und Wiese vermeiden es hier, für eine der Positionen Partei zu nehmen. Sie geben aber zu bedenken, dass außen- und verteidigungspolitische Aspekte weit über die Zuständigkeit des Atom- und Forschungsressorts hinaus gingen. Zu den weitergehenden Fragen der Kontinuität in der Wissenschaftspolitik, zum Ministeriumsalltag, der Strategie und der Sichtweise in vielen politischen und technischen Sachfragen wird in einem im Resümee angekündigten zweiten Band mehr zu finden sein. [2] Am Ende steht die allgemeine Feststellung, dass das Ministerium mit seinem Wirken "bedeutsame Impulse" für die kerntechnische Entwicklung gesetzt habe, insbesondere was die Rahmenbedingungen und die Forschungsförderung angeht. Aufgrund der bis heute ungelösten Entsorgungsproblematik müsse aber hinter das erfolgreiche Wirken ein großes Fragezeichen gesetzt werden (427-428).
Der Ertrag der Studie liegt also in der Aufarbeitung von NS-Belastungen einiger Führungskräfte, über die schon lange im progressiven Fachvolksmund gemunkelt wurde, die aber nie näher beleuchtet worden sind. Die prosopografischen Profile sowie die systemübergreifenden biografischen Detailskizzen sind die Stärken an diesem Band. Offen bleibt allerdings die viel spannendere Frage, inwiefern sich im konkreten Ministeriumsalltag und -wirken die NS-Belastungen niederschlugen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. https://www.ifz-muenchen.de/aktuelles/aus-dem-institut/artikel/fuenf-fragen-an-thomas-raithel-und-niels-weise, abgerufen am 15.07.2024
[2] Daniela Hettstedt / Thomas Raithel / Niels Weise (Hgg.): Im Spielfeld der Interessen. Das bundesdeutsche Atom- und Forschungsministerium zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, 1955 -1972. [noch nicht erschienen]
Anselm Tiggemann