Benno Nietzel: Die Massen lenken. Propaganda, Experten und Kommunikationsforschung im Zeitalter der Extreme (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 135), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, VIII + 518 S., ISBN 978-3-11-077424-5, EUR 79,95
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Mark Haarfeldt: Deutsche Propaganda im Rheinland 1918-1936, Essen: Klartext 2017
Svetlana Burmistr: Die "Minsker Zeitung". Selbst- und Fremdbilder in der nationalsozialistischen Besatzungspresse (April 1942 - Juni 1944), Berlin: Metropol 2016
Berna Pekesen: Zwischen Sympathie und Eigennutz. NS-Propaganda und die türkische Presse im Zweiten Weltkrieg, 2014
Hat das Zeitalter alternativer Fakten die Propaganda endgültig überwunden oder erleben wir längst ihr Comeback? Dem klassischen Verständnis nach beschreibt Propaganda jedenfalls den Versuch, Menschen von bestimmten politischen Ideen zu überzeugen, während die postmodernen Informationskriege der Gegenwart eine Ebene tiefer ansetzen: sie desavouieren die Verfahren öffentlicher Meinungsbildung und unterwandern das Vertrauen in rationalen Diskurs. [1] Davon unabhängig liefert die 2019 an der Universität Bielefeld angenommene Habilitationsschrift von Benno Nietzel "Die Massen lenken. Propaganda, Experten und Kommunikationsforschung im Zeitalter der Extreme" keine historische Erklärung aktueller Bedrohungslagen, sondern soll es erlauben, "das aktuelle Geschehen vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts kritisch zu lesen" (462). Die Aktualität der hier anzuzeigenden Studie mindert das keineswegs, es erlaubt ihr zudem Sinn für Aporien und Ambivalenzen, für Brüche und viele Details.
Die Studie untersucht das historisch variable Verhältnis von - erstens - staatlich-politischer Propaganda, zweitens wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Kommunikationsforschung sowie drittens den mit beiden in Verbindung stehenden (überwiegend männlichen) Experten, ihrem Wissen und ihren Tätigkeiten, und zwar von den 1920er-Jahren bis partiell in die 1970er-Jahre. Dabei richtet sie ihren Fokus maßgeblich auf die USA, integriert außerdem (West)deutschland und die Sowjetunion, teils vergleichend, teils verflechtungsgeschichtlich. Ausgangspunkt ist die Annahme, "dass sich politische Propaganda in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer komplexen, arbeitsteiligen Aktivität entwickelt, die auf einem weitgespannten Arrangement von institutionellen Strukturen, professionellen Routinen und Wissensbeständen sowie konzeptionellen, planerischen und evaluativen Praktiken aufruhte" (2). Diesem Arrangement, das alle drei Länder prägte und veränderte, geht die Studie nach, wobei vier analytische Ebenen im Zentrum stehen: Diskurse über Massenkommunikation und Propaganda als Wissensfeld, die konkreten Tätigkeiten von Experten für Massenkommunikation und Propaganda im politischen Feld, die wechselseitigen Beobachtungen zwischen den drei Untersuchungsländern sowie die Semantiken des Sprechens über Massenkommunikation. Das verbindet erstmals drei unterschiedlich breit aufgestellte Forschungsfelder in systematisch transnationaler Perspektive, nämlich zur Geschichte staatlicher Kommunikations- und Öffentlichkeitspolitik [2], zur Genese der Kommunikationswissenschaft [3] und zum Verhältnis von Wissenschaft, Expertentum und Politik im 20. Jahrhundert. [4]
Empirisch stützt sich die Studie auf breites Quellenmaterial aus den USA, Deutschland und der Sowjetunion. Dazu gehören ebenso gedruckte, mehrheitlich wissenschaftliche Publikationen wie Akten und Unterlagen aus insgesamt über 30 Archiven, von denen die russischen inzwischen nicht mehr frei zugänglich sind. Recherchiert wurden die Bestände staatlicher Behörden und Institutionen, ausgewählter wissenschaftlicher Einrichtungen sowie die Nachlässe einzelner Personen - unter ihnen Harold D. Lasswell, Paul Larzarsfeld und Hans Speier. Die Ergebnisse werden dann in vier Hauptkapiteln chronologisch präsentiert. Das von 1918 bis in die frühen 1930er-Jahre führende Kapitel eins zeigt, wie sehr das Verhältnis von Massenkommunikation und Propaganda nach dem Ersten Weltkrieg in allen drei Ländern als neue Herausforderung galt, dem sehr unterschiedlich begegnet wurde - in Deutschland mit Fokus auf den Staat als Agens von Propaganda, in den USA mit auch wissenschaftlichem Interesse an gesellschaftlichen Dimensionen von Massenkommunikation und in der Sowjetunion mit dem nur bedingt erfolgreichen Versuch, an internationale Debatten anzuschließen. Das zeitlich daran anschließende Kapitel zwei macht deutlich, wie intensiv die USA die Propagandatätigkeiten von Nationalsozialismus und Stalinismus beobachteten und nun begannen, wissenschaftliche Propagandaexperten in ihre Verwaltung zu integrieren. Kapitel drei beschreibt erneut mit Schwerpunkt auf den USA, wie zwischen 1941 bis 1945 alle drei Länder ihre Propagandastrategien beobachteten, intensivierten und nachjustierten. Das vierte und längste Kapitel schließlich behandelt die Zeit des Kalten Kriegs, der eine wissenschaftlich grundierte, psychologische Kriegsführung hervorbrachte und von dieser auch ermöglicht wurde, so Nietzel. Erst die Zuversicht in die Möglichkeit, mit wissenschaftlicher Expertise grenzüberschreitend die Massen zu lenken, "gab dem Konzept eines 'Kalten Kriegs' auf US-amerikanischer Seite überhaupt einen Sinn, denn auf eine andere Weise hätte dieser kaum geführt werden können" (454).
Das angesichts der Länge der Studie besonders wichtige Schlusskapitel führt die Ergebnisse zusammen. Es betont unter anderem die Bedeutung transnationaler Verflechtungen für die Konzepte und Semantiken von Propaganda und die Entstehung einer anwendungsbezogenen (Massen)kommunikationsforschung in den USA, aber auch die Bedeutung transnationaler Missverständnisse: ausgehend von publizierten Schriften und ohne echte Kenntnisse der politischen Praktiken schrieben die USA dem nationalsozialistischen Deutschland einen sozialwissenschaftlich und psychologisch gerüsteten Propagandaapparat zu, den sie zu übertrumpfen versuchten - der aber nie existierte. Zugleich erscheint das Zeitalter der Extreme nicht als Zeitalter einer bloßen Verwissenschaftlichung der Propaganda, sondern genauer als eines der Experten der Propaganda, die mit wissenschaftlicher Kommunikationsforschung unterschiedlich eng verbunden waren. Sie standen oft in transnationalem Austausch, aber nicht immer: dass in bestimmten Bereichen gerade keine Vernetzung möglich war und das Wissen über andere Länder trotz aller Beobachtung beschränkt blieb, ist für die herausgestellte Geschichte zentral - was empirisch gut begründet wird und den Trend hin zu transnationalen Studien sowohl aufgreift wie auch produktiv differenziert. [5]
Insgesamt ist eine Monografie entstanden, die ein für die Geschichte des 20. Jahrhunderts überaus relevantes Thema auf dichter Quellenbasis, mit sprachlich-analytischer Präzision und in differenzierter Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur detailliert bearbeitet. Manches hätte sich vermutlich straffen lassen und die asymmetrische Anlage über drei Länder hinweg ist für die Lesenden herausfordernd, zumal sich die eigentlichen Erkenntnisse der Studie vor allem auf den US-amerikanischen Fall beziehen. Dennoch wird die Lektüre nie langweilig, entwickelt die analytisch komplexe Studie doch ebenso überzeugende übergeordnete Perspektiven wie überraschende empirische Befunde im Detail, deren Relevanz für das übergeordnete Erkenntnisinteresse stets herausgestellt werden (das gilt vor allem für den US-amerikanischen Fall, siehe beispielsweise 325f. und 377f.). Zudem macht die asymmetrisch vergleichend-verflechtungsgeschichtliche Anlage mit zunehmender Lektüre auch zunehmend Sinn: im Wechselverhältnis der drei untersuchten Länder entstand jene wissenschaftlich gestützte US-amerikanische Propaganda, die den Kalten Krieg nicht nur begleitete, sondern ihn auch erlaubte und trug, und wer den Kalten Krieg verstehen will, sollte daher diese Studie lesen - jedenfalls in Auszügen. Auch weitere Forschung wäre lohnend, etwa zur Bedeutung Großbritanniens in der skizzierten Konstellation oder zum Selbstverständnis der Experten, um deren Handeln noch besser zu erklären. Nicht wenige waren Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland und fast alle waren Männer, die wohl auch als Männer agierten, wenn sie sich die Lenkung der Massen selbstbewusst auf die Fahne schrieben. Der profunden Studie ist daher zu wünschen, dass sie intensiv rezipiert wird und wissenschaftliche Anschlusskommunikation generiert.
Anmerkungen:
[1] Timothy Snyder: The Road to Unfreedom. Russia, Europe, America, New York 2018.
[2] Zu diesem Forschungsfeld liegen mannigfache Studien vor, siehe als anregenden Sammelband aus trans- und internationaler Perspektive Mark Connelly / Jo Fox / Ulf Schmidt / Stefan Goebel (eds.): Propaganda and Conflict. War, Media and Shaping the Twentieth Century, London 2019.
[3] Vgl. Ute Daniel: Die Geburt der Medientheorie aus dem Geist der Propaganda. Entstehungskontexte der Medienforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, hgg. von Jürgen Reulecke / Volker Roelcke, Stuttgart 2008, 55-77.
[4] Zur breiten Debatte um die "Verwissenschaftlichung des Sozialen" (Lutz Raphael) und auch von Politik siehe aus deutscher Perspektive die einschlägige Studie Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn u.a. 2005. Zu Zuschreibungs- und Anerkennungsmechanismen von Experten siehe Ariane Leendertz: Experten - Dynamiken zwischen Wissenschaft und Politik, in: Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, hgg. von Christiane Reinecke / Thomas Mergel, Frankfurt a. M., New York 2012, 337-369.
[5] Vgl. Margrit Pernau: Transnationale Geschichte, Göttingen 2011.
Nina Verheyen