Mariusz Kałczewiak / Magdalena Kozłowska (eds.): The World beyond the West. Perspectives from Eastern Europe (= New Perspectives on Central and Eastern European Studies; Vol. 3), New York / Oxford: Berghahn Books 2022, vi + 253 S., ISBN 978-1-80073-352-7, GBP 99,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Katja Castryck-Naumann (ed.): Transregional Connections in the History of East-Central Europe, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Alexander von Plato / Tomá Vilímek: Opposition als Lebensform. Dissidenz in der DDR, der ČSSR und in Polen, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013
Christoph Augustynowicz / Agnieszka Pufelska (Hgg.): Konstruierte (Fremd-?)Bilder. Das östliche Europa im Diskurs des 18. Jahrhunderts, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Melissa Feinberg: Curtain of Lies. The Battle over Truth in Stalinist Eastern Europe, Oxford: Oxford University Press 2017
Michael Gehler / Andrea Brait (Hgg.): Von den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa bis zum Zerfall der Sowjetunion 1985-1991. Eine Dokumentation aus der Perspektive der Ballhausplatzdiplomatie, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2023
Dieser Band bespricht die Beziehungen zwischen Osteuropa und der "nicht-westlichen" Welt und trägt damit zu einem expandierenden Forschungsfeld bei, das sich der globalen Verortung der Region widmet. Zeitlich konzentrieren sich die Beiträge auf die Phase des Hochimperialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und die Zwischenkriegszeit. Nur zwei Aufsätze besprechen Entwicklungen nach 1945. Osteuropa wird definiert als die Summe Russlands und der Länder, die zu unterschiedlicher Zeit unter russischer Herrschaft standen. Die Herausgeber sehen die Untersuchungsregion durch die "osteuropäische Kondition" geprägt, welche sich durch eine sowohl von außen zugeschriebene als auch verinnerlichte Marginalität und Andersartigkeit gegenüber dem Westen auszeichne.
Durch diese Zwischenlage waren die Osteuropäer einerseits einem hegemonialen Zugriff der Westeuropäer ausgesetzt. Andererseits konnten sie sich selbst in der Welt als Europäer und damit als Teil des kolonialen Zentrums positionieren. Wie die Herausgeber betonen (5), gehörten die Osteuropäer auf diese Weise sowohl zum Westen als auch zum Osten und waren damit sowohl Urheber als auch Objekte orientalisierender Diskurse. Der Band schickt sich nun an, empirisch zu untersuchen, wie Osteuropäer außereuropäischen Kulturen begegneten. Indem er über die klassische westeuropäische Perspektive hinausgeht und schwerpunktmäßig osteuropäische Reiseberichte auswertet, möchte der Band eine neue Sicht auf den Orientalismus liefern.
Neun empirische Fallstudien veranschaulichen diesen konzeptuellen Zugriff. Batir Xasanov umkreist den abfälligen russischen Begriff azjatčina, der sich vor allem mit der Idee der Leere der zentralasiatischen Steppe verband. Curtis G. Murphy zeigt, wie polnische Autoren bestimmte Volksgruppen im Kaukasus als potenzielle Verbündete im Kampf gegen das Russländische Reich ansahen, sich jedoch gegenüber Volksgruppen in Zentralasien als Vertreter einer russischen Zivilisierungsmission inszenierten. Mateusz Majman vergleicht zwei ethnografische Berichte über nordkaukasische, sprachlich und kulturell mit dem Iran verbundene Bergjuden im 19. Jahrhundert, wobei der eine von einem Juden aus Minsk, der andere von einem Bergjuden selbst verfasst wurde. Beide sind mit Sympathie geschrieben, vermitteln aber zugleich orientalistische Stereotype. Balázs Venkovits beschäftigt sich mit ungarischen Schriften über Mexiko im 19. Jahrhundert und kommt zu dem Schluss, dass sich Ungarn mit dem Westen identifizierten, sobald sie in einem weniger entwickelten Land unterwegs waren. Jonathan Hirsch analysiert die Berichterstattung über russische Juden in Palästina, welche mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Ägypten deportiert wurden, und zeigt auf, wie diese in Abgrenzung zu sephardischen Juden und Arabern als dezidiert westliche Akteure stilisiert wurden. Barbora Buzássyová legt am Beispiel der sozialistischen Tschechoslowakei dar, wie es Reiseberichte über Afrika erlaubten, Überlegenheitsansprüche fortzuschreiben, ohne die Ideale sozialistischer Kooperation offiziell in Frage stellen zu müssen. Sie sieht ab den 1960er Jahren, als sich ambitionierte Pläne für eine umfassende Zusammenarbeit nicht realisierten, eine Verschiebung von einem Afro-Optimismus hin zu einem Afro-Pessimismus. Marta Grzechnik behandelt polnische Siedlungsbestrebungen und wissenschaftliche Expeditionen der Zwischenkriegszeit in Südamerika, die in den Organen der Lobbygruppe See- und Kolonialbund (Liga Morska i Kolonialna) verbreitet wurden. Sie zeigt, dass diese Berichterstattung auf eurozentrischen Narrativen beruhte und koloniale Fantasien evozierte. Auch Piotr Puchalski beschäftigt sich mit der Zweiten Polnischen Republik und führt aus, dass koloniale Projekte, vornehmlich in Afrika, mit dem Ziel formuliert wurden, der instabilen geopolitischen Lage Polens in Europa zu begegnen. Puchalskis Aufsatz sticht konzeptuell dadurch hervor, dass er den Expansionsdrang aus der relativen Rückständigkeit Polens und als Teil eines umfassenderen Modernisierungsprojekts zu ihrer Überwindung erklärt. Jill Massino untersucht schließlich, wie die Schrecken des Vietnamkriegs dazu beitrugen, die kommunistische Regierung in Rumänien gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung mit mehr Legitimität auszustatten.
Die Beiträge zeigen in ihrer Gesamtheit, dass osteuropäische Akteure außerhalb Europas einerseits wie Repräsentanten der Kolonialmächte auf die bereisten Gesellschaften herabschauen konnten. Ein Rekurs auf Okzidentalismus und Weißsein war für Osteuropäer eine stets verfügbare Handlungsoption. Andererseits konnten sie den vorgefundenen Gesellschaften, insbesondere aufgrund ihres eigenen niederen Status in der imperialen Weltordnung, eine spezielle Sympathie entgegenbringen. Interessanterweise waren es oft dieselben Akteure, die je nach Kontext und Konjunktur eine andere oder gar gegensätzliche Perspektive einnahmen. Indem er diese Ambiguität systematisch offenlegt, verfügt der Band über eine hohe Kohärenz. Aber zeichnet das tatsächlich die osteuropäische Perspektive gegenüber anderen Sichtweisen aus? Auch in Reiseberichten britischer und französischer Autoren findet sich je nach persönlicher Verortung ein breites Meinungsspektrum von der uneingeschränkten Unterstützung der Zivilisierungsmission bis hin zu Kritik und Empathie mit den Kolonisierten. Letztendlich zeigt der Band damit lediglich, dass die Osteuropäer die Welt auf ähnliche Weise betrachteten wie die Westeuropäer, was durchaus ein Ergebnis ist.
Wie es bereits im Titel anklingt, teilt der Band die Welt konzeptuell in den Westen, Osteuropa und den "Nicht-Westen" ein und reproduziert damit die Vorstellung von einer Ersten, Zweiten und Dritten Welt. Zwar ergibt diese Einteilung sicherlich einen gewissen Sinn. Aber es wäre zu fragen, ob man Osteuropa im globalen Kontext denn immer als ein defizitäres Anhängsel des Westens verstehen sollte. Zumindest die sowjetischen Kommunisten waren da selbstbewusster, was im Band an keiner Stelle thematisiert wird. Letztendlich mag Osteuropa als Untersuchungsraum zu heterogen sein, um ein einheitliches Narrativ gegenüber der "nicht-westlichen" Welt herauszubilden. [1] Auch ein Fokus auf eurasische Gemeinsamkeiten könnte frische Perspektiven öffnen. [2]
Mit Südamerika, Afrika, dem Nahen Osten, dem Kaukasus und Zentralasien sowie Vietnam deckt der Band ein breites regionales Spektrum ab. Jedoch vermisst man sowohl Süd- als auch Ostasien. Das ist schade, denn hier gibt es bereits spannende Untersuchungen, die Lust auf mehr machen. [3]
Die Herausgeber betonen explizit (243), dass es ihnen vornehmlich um osteuropäische Diskurse über die nicht-westliche Welt gehe. Trotzdem fragt man sich als Leser oft, wie nun Repräsentanten der bereisten Gesellschaften die Osteuropäer wahrgenommen haben. Auch hier gibt es viel Raum für zukünftige Forschungen.
Eine knappe Mehrheit der Autoren ist an Universitäten im eingangs definierten Osteuropa tätig. Die übrigen Beiträger sind mit Institutionen in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten affiliiert. Wenn es hier trotz Publikationsort New York gelingt, die hegemoniale Perspektive, dass der Westen über den Osten schreibt, zu überwinden, wäre es ein zusätzlicher Gewinn gewesen, wenn auch Wissenschaftler aus den bereisten Regionen zu Wort gekommen wären. [4] Trotz dieser Kritikpunkte ist der Band ein wichtiger, qualitativ hochwertiger und gut zu lesender Baustein zur Globalgeschichte Osteuropas.
Anmerkungen:
[1] Dariusz Kołodziejcyzk / Igor Chabrowski: Unobvious Parallels. Christiaan Snouck Hurgronje, Wacław Sieroszewski, and Their Role in Gathering Imperial Knowledge in Sumatra and Yakutia in the 1890s, in Journal of World History (2023), 1 (34), 47-76.
[2] Chris Hann: Eurasian Dynamics. From Agrarian Axiality to the Connectivities of the Capitalocene, in: Comparativ (2018), 4 (28), 14-27.
[3] Tomasz Ewertowski: Images of China in Polish and Serbian Travel Writings (1720-1949), Leiden 2020.
[4] Yinhui Mao (ed.): Spotkania polonistyk trzech krajów - Chiny, Korea, Japonia. Rocznik 2016/2017 [Treffen von Polonisten dreier Länder - China, Korea, Japan. Jahrbuch 2016/2017], Warszawa 2018.
Klaus Dittrich