Rita Kiss: Aus Ungarn nach Bayern. Ungarnflüchtlinge im Freistaat Bayern 1956-1973 (= Studia Hungarica; Bd. 56), Regensburg: Friedrich Pustet 2022, 312 S., ISBN 978-3-7917-3184-1, EUR 39,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution und des Freiheitskampfes, der am 23. Oktober 1956 begonnen hatte, setzte in den ersten Novembertagen eine Massenflucht in die Nachbarstaaten Österreich und Jugoslawien ein. In den folgenden Monaten verließen fast 200.000 Menschen Ungarn, die meisten von ihnen wurden aus den Flüchtlingslagern in Österreich nach kurzer Zeit in die Aufnahmeländer in Europa und Übersee verbracht. Innerhalb Europas war Deutschland ein wichtiges Gastland, wobei sich Bayern durch seine jahrhundertelangen kulturellen und historischen Beziehungen zu Ungarn deutlich von den anderen Bundesländern abhob. In ihrem Buch, das auf ihrer im Jahr 2020 an der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigten Dissertation basiert, stellt Rita Kiss die historischen und verwaltungstechnischen Hintergründe der Aufnahme, das Verhältnis der Flüchtlinge zur bayerischen Bevölkerung sowie deren Beziehungen zueinander dar.
Nach dem Regimewechsel in Ungarn im Jahr 1989 wurden die Ereignisse der Revolution von 1956 für die Forschung zugänglich, wodurch in den letzten 30 Jahren eine erhebliche Anzahl von Publikationen, vor allem in ungarischer Sprache, zu diesem Thema veröffentlicht wurde. In diesem Rahmen ist Kiss' Buch in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen stellt es die Geschichte der ungarischen Flüchtlinge in Bayern gründlich und vielfältig dar, zum anderen kann es gerade im deutschsprachigen Raum, insbesondere in Bayern, das vor 70 Jahren Hilfe geleistet hat, breit rezipiert werden.
Neben der Darstellung der historischen Ereignisse fragt die Verfasserin insbesondere danach, wie Ungarn im Jahr 1956 in Bayern angesehen wurde, welches Bild die Menschen von den ungarischen Flüchtlingen hatten und wie sich dies im Alltag widerspiegelte. Kiss stützt sich in erster Linie nicht auf offizielle Dokumente, sondern auf Artikel der regionalen und lokalen Presse sowie auf Erinnerungen und Interviews mit Zeitgenossen. Das Buch beweist, dass die in Bayern angekommenen Flüchtlinge positiv aufgenommen wurden, weil die einheimische Bevölkerung aufgrund der historischen Verbindungen zu Ungarn ein grundsätzlich positives Bild von dem Land hatte, das durch die Popularität der damals weltberühmten "Goldenen Mannschaft" (der Fußball-Nationalmannschaft Ungarns) und die Ideale der Revolution gegen das kommunistische Joch verstärkt wurde. Kiss untersucht die Vorstellungen über ungarische Flüchtlinge nicht nur während der Zeit ihrer Aufnahme, sondern auch im Laufe der Integrationsprozesse bis in das erste Drittel der 1970er Jahre. Diese wurden maßgeblich von den sich wandelnden politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Ungarn, den Aktivitäten der ungarischen Emigrantenvereine, der Präsenz von Radio Free Europe in München und natürlich von persönlichen Beziehungen geprägt.
In fünf Kapiteln erzählt Kiss die Geschichte der Flüchtlinge, die aus Ungarn nach Bayern gekommen sind. Nach einer historiografischen Einführung werden die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse der Sowjetisierung Ungarns nach 1945 und die Maßnahmen der entstehenden kommunistischen Diktatur mit allen wichtigen Ereignissen und Akteuren dargestellt. Anhand statistischer Daten beschreibt die Verfasserin sodann die Flüchtlingswellen, die mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen am 4. November 1956 sowie mit dem Kampf um die Freiheit und schließlich mit den Repressionsmaßnahmen ausgelöst wurden. Zu den bemerkenswerten statistischen Angaben in dem Buch gehört, dass 45 Prozent der 200.000 Flüchtlinge zwischen 15 und 29 Jahren alt waren und der Anteil der Alleinstehenden 59 Prozent betrug.
Kapitel 3 zeichnet die Ereignisse in Deutschland und Bayern von der Idee der Aufnahme über die politische Entscheidungsfindung bis hin zu der Ankunft der ersten Flüchtlinge nach. 1956 lebten in Bayern etwa 180.000 deutsche Heimatvertriebene und fast 30.000 weitere Flüchtlinge in Sammellagern und Notunterkünften, deren Versorgung und Integration geregelt werden musste. Insgesamt waren 20 Prozent der Bevölkerung des Bundeslandes Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebene dort angesiedelt worden waren. In dieser Situation erfolgte im November 1956 der Hilfsaufruf der österreichischen Regierung an andere Staaten, Flüchtlinge aus Ungarn aufzunehmen. Die Verfasserin weist darauf hin, dass Bayern mit seinem Münchner Flughafen eine Schlüsselrolle bei den Transfers nach Übersee spielte. Im Jahr 1957 reisten fast 90.000 ungarische Flüchtlinge nach Bayern ein, von denen 15 Prozent im Freistaat blieben.
In den folgenden beiden Abschnitten (Kapitel 4 und 5) liegt der Schwerpunkt auf der Aufnahme und Integration. Es ist zu begrüßen, dass die Autorin auch die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Lage in Bayern ausführlich beschreibt, wobei sie insbesondere auf den Arbeitskräftemangel und die Besonderheiten des Arbeitsmarktes infolge der wirtschaftlichen Transformation näher eingeht. Der für den Leser vielleicht interessanteste Teil ist die fotografische Darstellung der Flüchtlingslager Piding und Schalding sowie die Beschreibung der Unterbringungsbedingungen und der gut organisierten Versorgung und Betreuung.
Besonderes Augenmerk legt Kiss darauf, wann und wie in der lokalen Presse über die Flüchtlinge berichtet wurde. Um bei der Bevölkerung um Sympathien und Spenden zu werben, wurden die gemeinsamen historischen Wurzeln Ungarns und Bayerns - weit zurück bis zum Heiligen Stephan und seiner Gemahlin, der bayerischen Prinzessin Gisela - thematisiert. Mit der Zeit verschwanden die Nachrichten über die Flüchtlinge aus der örtlichen Presse, aber die individuelle Integration ging abseits der öffentlichen Wahrnehmung weiter. Eine detaillierte Tabelle über die Zahl der in bayerischen Ortschaften angesiedelten ungarischen Flüchtlinge, wobei die nahezu als eigenständige Siedlungen fungierenden Barackenlager ebenfalls berücksichtigt werden, veranschaulicht den Integrationsprozess. Am bekanntesten war Wagenried, wo Deutsche, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Mitteleuropa vertrieben worden waren, eine vorübergehende Heimat gefunden hatten und 1957 durch ungarische Flüchtlinge ersetzt wurden. Natürlich wird auch die Geschichte des ungarischen Gymnasiums in Burg Kastl, das ebenfalls 1957 eröffnet wurde, erwähnt, obwohl es sich dabei eher um keine wirklich neuen Informationen handelt.
Das Schlusskapitel fügt sich nicht unbedingt in die bis dahin eingehaltene, chronologische Reihenfolge ein, da es im Wesentlichen die gegenseitigen Beziehungen und Stereotype noch einmal aufgreift, wenn auch in größerer Ausführlichkeit.
Die vorliegende Studie ist ein wichtiges Grundlagenwerk für Wissenschaftler, die sich mit der ungarischen Flüchtlingsthematik und den bayerisch-ungarischen Beziehungen beschäftigen, aber auch für eine breiter interessierte Leserschaft. Kiss' Schwerpunkte liegen auf lokalen Darstellungen der Aufnahme- und Integrationsprozesse sowie dem Bild, das sich beide Seiten voneinander machten. Diese Perspektive hat sie in lobenswerter Weise durch maßgebliche Archivfunde und Forschungsliteratur ergänzt. Ihr Ansatz, der sich nicht nur auf die Beschreibung historischer Daten, sondern auch auf das Verständnis des Bildes des jeweils Anderen konzentriert, trägt wesentlich dazu bei, dass das Buch zu den grundlegenden Werken über die ungarische Revolution von 1956 und deren gesellschaftliche Folgen zu zählen ist.
István Gergely Szüts