Rezension über:

Manuel Köster / Holger Thünemann (Hgg.): Geschichtskulturelle Transformationen. Kontroversen, Akteure, Zeitpraktiken (= Beiträge zur Geschichtskultur; Bd. 46), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2024, 499 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-52637-5, EUR 65,00
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Rezension von:
Georg Marschnig
Institut für Geschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Georg Marschnig: Rezension von: Manuel Köster / Holger Thünemann (Hgg.): Geschichtskulturelle Transformationen. Kontroversen, Akteure, Zeitpraktiken, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 10 [15.10.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/10/39091.html


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Manuel Köster / Holger Thünemann (Hgg.): Geschichtskulturelle Transformationen

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Geschichtskulturen werden von sozialen Kollektiven hervorgebracht, sind daher stets sozialen Aushandlungspraktiken unterworfen und unterliegen folglich unablässigem Wandel. Schon der Titel des beeindruckenden, 500 Seiten fassenden Kompendiums zeigt an, dass die beiden Herausgeber Holger Thünemann und Manuel Köster Geschichtskulturen als "zeitlich und räumlich komplexe Ensemble[s]" (11) verstehen, die einer enormen Dynamik und diversen, vielgestaltigen Wandlungsprozessen unterliegen.

Um die pluralen Erscheinungsformen abzubilden, die geschichtskulturelle Transformationen annehmen können, haben die Herausgeber einen breiten Fächer an Beiträgen zusammengestellt, die sich aus zwei Ringvorlesungen, die im Sommersemester 2022 und Wintersemester 2022/23 an der Universität Münster abgehalten wurden, speisen. Die daraus resultierenden neunzehn Texte werden nicht nur durch eine gemeinsame thematische Klammer - eben den Fokus auf geschichtskulturelle Transformation - zusammengehalten, sondern jeweils auch von einer knappen (aber aufschlussreichen) Zusammenfassung der Diskussionen eingeordnet, die auf die Vorträge folgten. Für die sicherlich zahlreichen Leserinnen und Leser wird dieses Verfahren zweifelsfrei sehr anregend sein, bietet es doch die Möglichkeit, auch Einsichten in den Entstehungskontext der Beiträge zu erlangen und sie selbst als Denkimpuls zu begreifen.

Dem Band vorangestellt ist ein konziser Einleitungstext, der den Herausgebern nicht nur dazu dient, das Gesamtthema des Bandes zu entfalten und die Beiträge in eben dieses einzuordnen. Die Einleitung führt darüber hinaus auch kompakt und griffig in den theoretischen Rahmen ein, der sich um das Kompendium legt. Somit eignet sich dieser einführende Text auch, um sich (etwa als Studierende:r) mit der Rüsen'schen Konzeption von Geschichtskultur und seiner Weiterentwicklung in den vergangenen Jahrzehnten vertraut zu machen. Die Sensibilisierung für die Dynamik, der Geschichtskulturen immer unterliegen, ist dabei stets präsent.

Bemerkenswert ist weiters, dass der umfangreiche Band, trotz seiner Seitenstärke sich keineswegs verläuft, sondern erstaunlich stringent der titelgebenden Gesamtthematik widmet. Das mag vor allem an der ebenso einfachen wie klaren dreiteiligen Grundstruktur liegen, die sich auch im Untertitel des Buches wiederfindet ("Kontroversen - Akteure - Zeitpraktiken"), und die Beiträge, die sich höchst unterschiedlichen Themenfeldern widmen und diese mit vielfältigen Fragestellungen vermessen, in den drei Großkapiteln schlüssig ordnet.

Das erste Kapitel, das vom Leitbegriff Kontroversen überschrieben ist, wird von Aleida Assmann eröffnet, die sich - zu Beginn auch vor dem spannenden Hintergrund der eigenen Biografie - mit der Zukunftsfähigkeit der Kategorie Nation auseinandersetzt. Dabei untersucht sie das Selbstverständnis von zivilen und militanten Nationalstaaten und findet Unterschiede zwischen diesen nicht nur bezüglich des Verhältnisses zwischen Kollektiv und Individuum, sondern auch bezogen auf den Umgang mit nationalen Geschichtskulturen. Basierend auf einer vielschichtigen Analyse aktueller Phänomene plädiert Assmann schlüssig, den Nationsbegriff nicht aufzugeben, aber ihn weiterzuentwickeln: "Die Nation ist eben eine Dauerbaustelle." (46)

An Assmanns Text schließt im ersten Kapitel des Buches, das mit elf von neunzehn Beiträgen auch das umfangreichste darstellt, eine Reihe von Beiträgen an, an der sich die Vielfalt geschichtskultureller Kontroversen in der rezenten deutschen Vergangenheit nachvollziehen lässt. Der thematische Bogen wird dabei von den Transformationen des deutsch-polnischen Verhältnisses (Roland Traba), über die kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten Kontroverse um das deutsche Kaiserreich (Gabriele Metzler), bis hin zur Analyse der öffentlichen Erinnerung von sogenannten Hexen (und wenigen Hexern), die in den zwei westfälischen Städten Lemgo und Dortmund einen je unterschiedlichen Ausgang genommen hat und daher ein gutes Beispiel für die Diversität geschichtskultureller Auseinandersetzungen ist (Gudrun Gersmann). Bemerkenswert aktuell ist der Beitrag von Moshe Zimmermann, der aus innerisraelischer Perspektive die Debatte um einen antiisraelischen Antisemitismus erörtert und für eine präzisere Definition desselben plädiert. Nur so könne, so Zimmermann, geklärt werden, "wie viel Antisemitismus zum Reizthema Israel" (90) gehöre.

Die aktuellen Debatten um Kolonialität nehmen Hans Beck, Habbo Knoch und Thomas Sandkühler in ihren Beiträgen auf. Alle drei nehmen auf Kontroversen Bezug, die aus dem angloamerikanischen Raum kommend die deutsche Öffentlichkeit in Unruhe versetzt haben und dienen als Beleg für die diskursbereichernden Impulse, die von postkolonialen Theorien weiterhin ausgehen.

Auch die abschließenden Texte des ersten Kapitels setzen sich mit Transformationen innerhalb der Geschichtswissenschaften auseinander. Während Christoph Darmanns gewinnbringender Beitrag die problematischen Argumentationsstrategien des "Netzwerks Wissenschaftsfreiheit" offenlegt, nimmt Peter Geiss mit "einem epistemologischen Unbehagen" (251) die Zentralformel der geschichtsdidaktischen Disziplin ins Visier und warnt in seinem pointierten Text vor einer narrativistischen Engführung auf "Sinnbildung über Zeiterfahrung". Schließlich setzt sich Sabine Huebner unter dem Titel "Klimageschichte und Geschichtswissenschaft" mit den Transformationen auseinander, die in den Geschichtswissenschaften vor dem Hintergrund klimatischer Veränderungen bereits erkennbar sind.

Im zweiten Kapitel, das den Titel Akteure trägt, wird der kühne Versuch unternommen, so unterschiedliche geschichtskulturelle Akteure zusammenzubinden wie den römischen Prinzeps Augustus (im Beitrag von Karl-Joachim Hölkeskamp), die Internationale Bauausstellung Emscher Park (im Text von Helen Wagner), das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Simone Mergen) und die sich im Wandel befindenden deutschen Gedenkstätten, die von Jens-Christian Wagner untersucht werden. Wiewohl die Perspektiven, die von den einzelnen Beiträgen eröffnet werden, unterschiedlicher nicht sein könnten, so machen die Texte dieses zweiten Abschnittes doch deutlich, dass Geschichtskulturen eben immer durch Menschen und Kollektive entwickelt und geprägt werden, die mit ihren Handlungen Geschichte machen.

Das dritte Kapitel schließlich, das den Titel Zeitpraktiken trägt, wird vom luziden Beitrag von Achim Landwehr eröffnet, der für die Fokussierung von zeitlichen Relationierungen und für "ein anderes Erzählen andersgearteter Geschichten" (420) plädiert. Die Untersuchung jener Praktiken, mit denen Menschen in ihren jeweiligen Gegenwarten Bezüge zu Vergangenheiten und Zukünften herstellen, sei, so Landwehr, gerade angesichts der Klimakatastrophe, in der die verschiedenen Zeitschichten permanent ineinanderlaufen, ein dringliches Unterfangen für die Geschichtswissenschaften.

Dem Umgang mit Zeit widmen sich auch die drei folgenden Beiträge, wenngleich mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen. Während Manuel Köster ausgehend von Reenactment-Praktiken ein system- und praxistheoretisch motiviertes Konzept von Geschichtskultur entwickelt, geht Martin Schlutow dem Phänomen des Denkmalsturzes nach, um aus einer international vergleichenden Perspektive eine Typologie von Protestpraktiken zu entwerfen. Sabrina Schmitz-Zerres' Beitrag beschließt den Band und setzt sich mit der Zentralkategorie des Geschichtsbewusstseins auseinander, das sie in einem zeit- und praxistheoretischen Zugriff verhandelt. Als Untersuchungskorpus dienen ihr dabei Tagebucheinträge aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, die sie hinsichtlich Bruch- und Kontingenzerfahrungen befragt.

Mit dem Sammelband "Geschichtskulturelle Transformationen" haben die beiden Herausgeber ein breit gefächertes Angebot für alle jene geschaffen, die sich mit den vielfältigen Wegen der Veränderung auseinandersetzen wollen, die an den Begriff Geschichtskultur geknüpft sind. Aufgrund seiner anregenden Vielschichtigkeit, der klugen Strukturierung und der beeindruckenden Argumentationskraft zahlreicher Beiträge, ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen.

Georg Marschnig