Dierk Hoffmann: Mythos Sachsen. Privatisierung, Kommunikation und Staat in den 1990er-Jahren (= Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt), Berlin: Ch. Links Verlag 2024, 304 S., ISBN 978-3-96289-212-8, EUR 30,00
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Sachsen hat sich in den 1990er Jahren als eine Art "Musterländle" im Osten Deutschlands inszeniert. Maßgeblicher Initiator dieser Imagekampagne war der vor 1990 vor allem in Nordrhein-Westfalen politisch und wissenschaftlich wirkende Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der sich den Spitznahmen "König Kurt" gerne gefallen ließ. Sachsen als "Musterschüler" - ein Bild, an dem Biedenkopf und sein ebenfalls aus der "alten" Bundesrepublik stammender Wirtschaftsminister Kajo Schommer kräftig mitgezeichnet hatten. Doch wie verhielt sich die Realität zu dieser Inszenierung? Dierk Hoffmann richtet den Blick auf die - so die These - eng verknüpfte Privatisierungs- und Kommunikationsstrategie (16). Gerade Sachsen biete sich als Untersuchungsgegenstand an, denn Biedenkopf wie Schommer seien von Beginn ihrer Tätigkeit im "Freistaat" an darum bemüht gewesen, "Deutungshoheit" über die Folgen der Einheit zu erzielen (17). Sie reagierten auf die Herausforderungen der Transformation mit einer "Imagepolitik", die Vertrauen in der Bevölkerung generieren sollte, sich von der Treuhandanstalt abgrenzte und die Stellung des Landes im Bund stärken sollte. Damit verbunden war ein eigenständiger Privatisierungskurs, der auf die Gewinnung ausländischer Investoren zur Sanierung sächsischer Treuhandbetriebe setzte.
Hoffmann möchte mit seiner Studie auch einen Debattenbeitrag zum "sogenannten Neoliberalismus" leisten, der als "Kampfbegriff" mehr verdecke als er erklären könne (282). Stattdessen wählt der Autor den Begriff der "wirtschaftspolitischen Leitbilder", die kein "geschlossenes Modell" darstellen, sondern ein "Set von wirtschaftspolitischen Einstellungen bzw. Überlegungen, die grundsätzlich eine hohe Anpassungselastizität aufweisen" (18). Man mag den Begriff "Neoliberalismus" als Analyseinstrument zu Recht verwerfen, aber der präsentierte Alternativbegriff der "Leitbilder" bleibt unscharf - was soll damit gemeint sein? Hoffmann geht davon aus, dass die Transformation in Ostdeutschland ein "Laboratorium" darstellte, in dem unterschiedliche "Leitbilder aufeinanderstießen und neu verhandelt wurden" (19). Der Begriff des Laboratoriums wurde bereits zeitgenössisch genutzt, um vor allem die Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen einzufordern. Doch diese Dimension ist hier offenkundig nicht gemeint. Stattdessen wird die These formuliert, dass das Verhältnis Staat - Wirtschaft neu austariert worden sei (20).
Dierk Hoffmann fächert einen Fragenkatalog auf, der den Blick auf die Privatisierungsstrategien und deren Veränderung im Zeichen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise richtet. Welche Kommunikationsstrategien wurden entwickelt, wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen Land, Treuhandanstalt und Bundesregierung?
In insgesamt sieben Kapiteln arbeitet der Autor sein Forschungsprogramm ab. Nach einer Eröffnung, die die Entwicklung "vor der Privatisierung" beschreibt, folgt das Kapitel "Wirtschaft und Arbeit in Sachsen", das den Strukturwandel und die Deindustrialisierung sowie Arbeitslosigkeit und soziale Proteste thematisiert. Im dritten Kapitel "Privatisierung als Imagepolitik" präsentiert Hoffman zwei biografische Skizzen zu Biedenkopf ("der Landesvater") und Schommer ("der Macher"). Diese Abschnitte hinterlassen beim Rezensenten einen zwiespältigen Eindruck. Zweifellos waren beide die dominanten Persönlichkeiten der Landespolitik. Aber ist ein derartig personenzentriertes Narrativ angemessen? Verdeckt es nicht die Bedeutung anderer Akteure, die die Politik des Landes ebenfalls mitgeprägt haben? Zu denken wäre an nicht minder bedeutsame Akteure, wie etwa Hasso Düvel von der IG Metall. Generell stellt sich die Frage der Perspektive. Lassen sich die formulierten Fragen vor allem durch einen Blick von "oben" bzw. mit Konzentration auf die Spitzen der Landespolitik beantworten? Was hielten eigentlich die Beschäftigten in den Treuhandbetrieben von der Imagepolitik der Landesregierung?
Die beiden folgenden Kapitel thematisieren das Verhältnis Land - Treuhand als "Zweckbündnis" und Beispiele der Privatisierung, darunter die Rettung des Edelstahlwerks in Freital und der Niedergang der Textil- und Bekleidungsindustrie. In diesen Kapiteln lassen sich auch Hinweise zu den "Leitbildern" und ihrer Modifizierung unter Krisenbedingungen finden. Dass "der Markt" die Probleme der Transformation nicht alleine lösen könne, war eine Erkenntnis, die sich ab Frühjahr 1991 in der Bundesregierung und spätestens ab 1992 auch in der Treuhandanstalt verbreitete. Die Aufgabe der Sanierung wurde stärker betont und dies auch seitens der sächsischen Staatsregierung. So sollten sanierungsfähige Unternehmen, die noch nicht privatisierungsfähig waren, gezielt gefördert und innerhalb von fünf Jahren saniert werden. Allerdings nicht durch den Staat, sondern durch Unternehmer, die dafür 51 Prozent der Unternehmensanteile erhalten sollten ("Sanierung durch Unternehmen") (140). Dieses Konzept erinnerte an diverse Vorschläge, eine "Industrieholding" für die Sanierung nicht privatisierbarer Betriebe zu errichten, allerdings mit staatlicher Subventionierung. In diese Richtung zielte auch der Vorschlag Sachsens vom Februar 1993. Für die Zeit nach dem aktiven Wirken der Treuhandanstalt sollten derartige Betriebe in einer Holding zusammengefasst werden; der Bund sollte als "Bürge" fungieren. Der Vorschlag wurde von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt (FDP) "strikt" abgelehnt, zu befürchten war aus seiner Sicht, dass der Bund auf diesen Betrieben "sitzen" bleibe (148). Hoffmanns Darstellung bleibt an dieser Stelle uneindeutig. Das mag der unklaren Haltung der Landesregierung geschuldet sein. Während Biedenkopf und Schommer (nur die beiden?) im Februar 1992 einen Vorschlag der IG Metall, eine "Staatsholding in Sachsen für 30 bis 40 Betriebe" zu errichten, "kategorisch" abgelehnt hätten (215), "liebäugelten" sie ein Jahr später "kurzzeitig" selbst mit der Errichtung einer derartigen Holding für rund 500 sächsische Betriebe (221). Dass das Konzept der Industrieholding als Alternative zur Privatisierung durch die Treuhand von der IG Metall und auch von den sächsischen Gewerkschaften nachdrücklich propagiert wurde, problematisiert der Autor nicht. Immerhin ist dies ein Beispiel für mögliche Wandlungen von "Leitbildern". "Der Staat", der bislang aus den Sanierungskonzepten herausgehalten wurde, rückte nun in den Blickpunkt.
Sachsen hat eine Vielzahl von Programmen und Projekten auf den Weg gebracht. Einen gewissen Erfolg konnte das Ende 1994 auslaufende ATLAS-Projekt verzeichnen (225). Andere wie der "Sachsenfonds" erwiesen sich als "Flop" (215). Mit all diesen Ansätzen und ihren Einflussversuchen auf Treuhandentscheidungen erwies sich Sachsen als ein Land, das gewillt war, eigenständige Akzente in den Jahren der Transformation zu setzen und dabei in Grenzen auch erfolgreich war. Dennoch lautet das abschließende Fazit: Sachsen habe die Transformation in den 1990er Jahren nicht schlechter, aber auch nicht besser bewältigt als die übrigen ostdeutschen Bundesländer. Der "Musterschüler" also ein Mythos, geschaffen durch eine erfolgreiche Imagepolitik, die mit den Realitäten in einem ambivalenten Verhältnis stand. Dabei werden zwei Persönlichkeiten prominent behandelt, was die Frage aufkommen lässt, ob denn der Komplex von Sanierungs- und Kommunikationsstrategie tatsächlich so personenzentriert behandelt werden sollte. Davon abgesehen hat Dierk Hoffmann eine Studie vorgelegt, die erstmals das Agieren eines "neuen" Bundeslandes in den 1990er Jahren der Transformation explizit in den Blick nimmt. Er hat damit eine gewichtige Lücke in der Forschung geschlossen, die noch allzu oft nur auf die zentralen Akteure, allen voran die Treuhandanstalt gerichtet war.
Detlev Brunner