Andreas Wirsching / Lars Lehmann (Hgg.): Nationalstaat und Föderalismus. Zum Wandel deutscher Staatlichkeit seit 1871, Frankfurt/M.: Campus 2024, 326 S., ISBN 978-3-593-51762-9, EUR 49,00
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Das Grundgesetz bestimmt bekanntlich in Artikel 20 die Bundesrepublik Deutschland als einen demokratischen und sozialen Bundesstaat. Diese Regelung knüpft an eine ältere Verfassungstradition an, was im vorliegenden Band in 14 Beiträgen sowie einer Einleitung rekonstruiert werden soll. Gut die Hälfte davon sind zeitlich auf die Bundesrepublik bezogen, der Rest konzentriert sich auf die Zeit nach dem Kaiserreich bis dahin. Dabei gilt es, postuliert Andreas Wirsching, die historisch angelegte Spannungslage zwischen den modernen Ideen des Nationalstaates auf der einen Seite und den Fortbestand der traditionellen föderalen Struktur auf der anderen Seite, mit einzubeziehen (12) sowie den Wandel des Systems von "checks and balances" nachzuzeichnen. Und trotz aller politischen Brüche und Veränderungen gilt: "Es ist nicht möglich, aus der Geschichte heraus zu springen; der Föderalismus ist eine historisch gewachsene Pfadabhängigkeit der deutschen Geschichte, die immer wieder neue Realitäten schafft." (21)
Zur Reichsgründungszeit wird etwa bei Treitschke das moderne Preußen der alten Welt des Partikularismus und der Vielstaaterei gegenübergestellt (25) - was freilich zeitgenössisch aber auch als "Borussianismus" (37) kritisiert wurde (W. Neugebauer). Hort des Föderalismus und Partikularismus war und ist Bayern, was Bernhard Gotto nachzeichnet. Im Streit um den Finanzföderalismus in den 20er Jahren fordert Bayern sogar die eigene Steuerhoheit. "Das war ebenso anachronistisch wie unrealistisch" (107). Diese Argumentation stand in einer engen Verbindung zu einer katholisch grundierten Kulturkritik, die den (vermeintlichen) Verfallstendenzen der Moderne ein harmonisches, organisches Gesellschaftsmodell entgegenstellte. (108)
Bis heute ist der Freistaat der "Lordsiegelbewahrer des Föderalismus", wie Edmund Stoiber 1997 postuliert hat. Dieser bildet ein Element der gesamtbayerischen politischen Hegemonialkultur und legitimiert bayerische Interessenpolitik. Freilich wird das hehre Prinzip seit den 60er Jahren durch Ressort- und Regierungsinteressen (auf Bundesebene) überlagert; der "Abschied von der Doktrin" (126) wird jedoch durch erhebliche Gewinne durch den Finanzausgleich versüßt.
Auch Hessen verfolgte - so Andreas Hedwig - nach der Neugründung des Landes einen gewissen Sonderweg. "Die regierende SPD unter Zinn zögerte nicht, strittige bundespolitische Themen wie die Wiederbewaffnung oder die Medienpolitik aufzugreifen und Hessen als politisches Widerlager zur Bonner >Adenauerrepublik< zu profilieren." (189)
In diesem Spiel der politischen Kräfte um die Austarierung der Kompetenzen kommt der Ministerpräsidentenkonferenz eine zentrale Rolle zu. Sie fungiert sowohl als Selbstbehauptungsorgan der Länder sowie als bundespolitischer Akteur. (191) Wichtige Entscheidungen sind hier und nicht im Bundesrat gefallen - was Ariane Leendertz gut herausarbeitet. Damit wird die Tradition des "Exekutivföderalismus" fortgesetzt und die Tendenz zur Unitarisierung und Politikverflechtung mitgetragen. Ziel ist die Vereinheitlichung der Wirtschafts- und Sozialordnung sowie die Angleichung der Lebensbedingungen der Bevölkerung. Das erfordert die Einbindung in ein vielfältiges Verhandlungssystem mit einer Bereitschaft zu Kompromissen. Neue Instrumente wie die Gemeinschaftssaufgaben, der Steuerverbund oder die Investitionshilfen werden von entsprechenden Gremien wie dem Konjunkturrat oder dem Finanzplanungsrat begleitet (s.a. den detailreichen Beitrag von St. Oeter). Trotz aller Versuche, die wachsenden Zahlen an Gremien und länderübergreifender Arbeitsgruppen zu reduzieren, zählte das Land Baden-Württemberg im Jahr 2004 rund 700 Gremien dieser Art. (211) Das Management der Corona-Krise hat die Ministerpräsidentenkonferenz als eine zentrale politische Instanz nachdrücklich bestätigt.
Der Preis für diese Kooperation und Verflechtung im Bundesstaat sind allerdings langwierige Abstimmungs- und Einigungsprozesse, die durch Interessenausgleiche mit typischen Koppel- und Tauschgeschäften, Zugeständnissen und Kompensationen erreicht werden können (213). Nicht selten verlaufen die Konfliktlinien dabei zwischen den finanzstarken und den finanzschwachen Bundesländern und nicht (nur) zwischen den Parteien - obwohl die Koordinierung zwischen den A- und B-Ländern zunimmt. (201)
Die oft in der Föderalismusforschung vernachlässigten Parteien werden von Siegfried Weichlein behandelt. Sie nehmen verschiedene wichtige Funktionen wahr; sie verbinden zum einen die Landes- und Bundesebene bzw. sie sind intern föderativ organisiert. Trotz aller Verapparatung und Bürokratisierung hat sich in den Parteien die "lose verkoppelte Anarchie" als Strukturmoment erhalten. So wurde - trotz aller historischer Abneigung gegen den Föderalismus - die SPD nicht zur straff und zentralistisch geführten Partei. Auch in der CDU war die Parteizentrale lange nur schwach ausgebildet (227). Das System der Parteienfinanzierung begünstigt zudem die dezentralen Parteistrukturen. (228)
Zum anderen stellen die Parteien das Bindeglied zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat dar - und können letzteren gelegentlich als Oppositions- und Blockadearena missbrauchen. Dieser Zustand ist sogar als "Systembruch" (G. Lehmbruch) interpretiert worden, bei dem der Parteienwettbewerb den auf Verhandlung und Kompromiss angelegten Föderalismus überlagert habe. Und: "Um nicht die Verantwortung für ungeliebte Kompromisse übernehmen zu müssen, drängten die Parteien gerne das Bundesverfassungsgericht in die Rolle des Schiedsrichters zwischen Bund und Ländern beziehungsweise zwischen Regierung und Opposition". (226)
Die Entwicklungsmuster zwischen Parteien und Föderalismus lassen sich - so Siegfried Weichlein - als Paradoxie interpretieren: "Ursprünglich waren die Länder die Garanten räumlicher Dezentralisierung und territorialen Eigensinns. Im Laufe der Bundesrepublik trat diese Rolle der Länder immer weiter zurück. [...] Aus der Autonomie der Länder wurde Zug um Zug ihre Mitbestimmung im Bund. [...] Die dezentralisierten Parteien übernahmen gewissermaßen die Ausfallbürgschaft für das territoriale Moment. In ihren dezentralen Strukturen hielt sich der regionale Eigensinn mehr als im west- und später gesamtdeutschen Föderalismus." (231)
Das bemerkenswerte Phänomen in der Geschichte des deutschen Föderalismus ist nicht nur seine Kontinuität - und sei es nur in rudimentärer Form wie im Nationalsozialismus (93ff; s. M. Kießer) oder in der DDR (133ff; s. H. Wentker). Die Resistenz und Widerständigkeit gegenüber dem jeweiligen Regime ist freilich nicht nur institutionell begründet, sondern sie spiegeln ebenfalls die notorischen Kontrolllücken jeder Organisation und Herrschaft wider. Ebenso interessant ist, dass Föderalismusreformen - von Stefan Oeter behandelt - die Bundesrepublik von Beginn an begleitet haben und es dabei zu beachtlichen Veränderungen gekommen (233ff), sowie die Anpassung an die Europäisierung erfolgt ist (265ff; s. J. Becker/G. Thiemeyer). Insofern sind Thesen der Blockade oder einer Falle der Politikverflechtung überzogen.
Der Band belegt aus unterschiedlichen Perspektiven die beachtliche Kontinuität des deutschen Föderalismus und sein "So-und-nicht-anders-geworden-sein" (M. Weber) und liefert an vielen Stellen neue und interessante Erkenntnisse. Hervorzuheben sind - durchaus subjektiv - die Beiträge von Gotto, Leenderzt und Weichlein.
Eine Rezeption des "historischen Institutionalismus" (aus der Politikwissenschaft) - so ein kritischer Hinweis - hätte sich jedoch angeboten, um die Wechselwirkungen zwischen Institutionen, Ideen und Akteursinteressen systematischer auszuleuchten und das Syndrom der Pfadabhängigkeit stärker theoretisch zu fundieren. Und, noch wichtiger: Die Rolle des Sozialstaates und der großen Verbände als Motoren der Unitarisierung bleibt - wie so oft - weitgehend außen vor. Das ist schade.
Josef Schmid