Mordechai Z. Cohen: Rashi, Biblical Interpretation, and Latin Learning in Medieval Europe. A New Perspective on an Exegetical Revolution, Cambridge: Cambridge University Press 2021, XIV + 307 S., ISBN 978-1-108-47029-2, GBP 79,99
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In der Literatur- und Geistesgeschichte gibt es Brüche in Traditionen (z.B. Religionen), die Parallelen in benachbarten Traditionen haben, ohne dass ein unmittelbarer Einfluss nachweisbar ist. Einem derartigen Phänomen ist die vorliegende, äußerst wichtige Studie gewidmet. In ihrem Mittelpunkt steht der jüdische Talmud- und Bibelkommentator Shlomo Yitzhaqi, besser bekannt unter dem Akronym Rashi, der in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts das mittelalterliche mitteleuropäische ("aschkenasische") Judentum grundlegend veränderte, indem er eine neue Art der Bibelauslegung etablierte. Geboren um 1040 in Troyes, studierte er in Worms, bevor er in seiner Heimat eine eigene Schule eröffnete und bis zu seinem Tod nahezu die gesamte Bibel (das christliche "Alte Testament") und nahezu den gesamten Babylonischen Talmud glossierte und damit den jeweils ersten umfassenden Kommentar schuf. Seine Auslegungsmethode fand unter dem Begriff "peshat" Eingang in die Geschichte.
Mordechai Z. Cohen vergleicht in der hier anzuzeigenden Studie Rashis Vorgehen mit zeitgenössischen exegetischen Modellen sowohl verschiedener jüdischer als auch - und das ist besonders hervorzuheben - christlicher Exegeten. Dabei liegt sein Fokus auf dem Psalmenkommentar des Gründers des Kartäuserordens Bruno von Köln (ca. 1027/30 - 6.10.1101), der in der Auslegung einzelner Psalmen weniger Gewicht auf eine geistliche denn auf eine grammatikalisch-poetologische Interpretation legte. Am Beispiel der Auslegung von Psalm 77Vg. (78 MT) zeigt der Verfasser, dass Analogien zwischen Brunos Unterscheidung einer Auslegung von literalem und mystischem Schriftsinn und Rashis Auslegung nach peshat ("wörtlich") und derash ("metaphorisch-geistlich") bestehen. Für beide seien zudem Einflüsse in der jeweiligen Vorgänger- bzw. Traditionsliteratur zu finden. Es stelle sich folglich die Frage, "whether the great Bible exegete-talmudist of Troyes could have actually known about the Bible interpretation of the older cathedral master of Rheims, around 66 miles away" (96). Es ergebe sich zudem die Folgefrage, wie Rashi gegebenenfalls überhaupt Kenntnis von der christlichen Exegese erlangt haben könnte, da die Sprachbarriere (lateinische versus hebräische Exegese) bedacht werden müsse. Hier bestünde allerdings die Möglichkeit über das Romanische; ein Beispiel für eine derartige Kommunikation biete sich über Stephen Harding, den Mitbegründer des Zisterzienserklosters in Cîteaux, an, der seinerseits eine am Hebräischen korrigierte Bibel habe erstellen lassen.
Der Schwerpunkt von Cohens Darstellung liegt dabei jedoch nicht auf der christlichen Exegese, sondern auf Rashi und seiner Schule. Dementsprechend wird in den ersten beiden Kapiteln Rashis "neues" exegetisches Programm entfaltet: der Gebrauch von peshat (Kap. 1) und die Verwendung des Midrasch (dem rabbinischen Kommentar, Kap. 2). Im dritten Kapitel wird dann Brunos Exegese vorgestellt, im vierten Kapitel die jüdische exegetische Schule von Andalusien. Das fünfte Kapitel beleuchtet Auslegungsformen der jüdischen Schulen aus Byzanz. Im sechsten und siebten Kapitel werden Vergleiche von Rashis Auslegungen mit lateinisch-grammatischer Exegese sowie dem Konzept des Dichters David angestellt. In den beiden Schlusskapiteln werden Linien in die Schule Rashis ausgezogen.
Abgesehen von gelegentlichen Redundanzen ist das Buch angenehm flüssig und gut nachvollziehbar geschrieben. Auch wenn sich keine Belege für einen tatsächlichen Einfluss Brunos auf Rashi finden lassen, wird die zukünftige Darstellung der Exegesegeschichte an Cohens grundsätzlichen Überlegungen zu parallelen Entwicklungen und möglichen Kontaktpartnern nicht vorübergehen können.
Die Studie verdient viele - wohlwollend-kritische - Leserinnen und Leser. [1]
Anmerkung:
[1] Ein Druckfehler hat sich in das sehr gut lektorierte Buch eingeschlichen: Auf Seite 22 muss es "1060s and 1070s" heißen.
Görge K. Hasselhoff