Tanja Gausterer / Arnhilt Inguglia-Höfle / Susanne Rettenwander u.a. (Hgg.): Ausnahmezustand. Krisen und Konflikte aus dem Archiv (= Sichtungen. Archiv Bibliothek Kulturwissenschaft; Bd. 20./21. Jahrgang), Göttingen: Wallstein 2024, 260 S., 86 z. T. farb. Abb., ISBN 978-3-8353-5510-1, EUR 34,00
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Der Titel des Bandes bedarf einer Erklärung. Es handelt sich um in der Regel kurze Aufsätze, die zu Beständen des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek verfasst wurden. Wer im Zweifel ist, ob dies die Geschichtswissenschaft angeht, sollte das Editorial der Herausgeberinnen lesen. Es erbringt den Nachweis, dass sich Kulturschaffende seit Boccaccios Decamerone im Spätmittelalter immer wieder mit Krisen befasst haben. Natürlich sind die multiplen Krisen der Gegenwart Anknüpfungspunkt für den Band. Aufsetzend auf Reinhart Kosellecks einschlägigen Artikel in den Geschichtlichen Grundbegriffen und neueren Publikationen zum Leitbegriff Krise in den Kulturwissenschaften [1], wird versucht, aus Beständen der Literaturarchivs Zugänge "zum Komplex des Konflikt- und Krisenhaften" zu eröffnen: "Das Archiv ist Spiegel und Speicher der historischen Entwicklungen und Ereignisse, der Gesellschaft einer Zeit wie auch der individuellen Erfahrungsweise" (11).
Vier literarische Texte österreichischer Autorinnen (Valerie Fritsch, Marlene Streeruwitz) und Autoren (Franz Schuh, Daniel Wisser) mit Aktualitätsbezug leiten den Band ein. Unter der Rubrik "Kollektive Krisenerfahrungen" sind Aufsätze vereint, die die Zeit zwischen 1928 und 1979 abdecken. Evelyne Luef berichtet, wie die "Lebensmüdenstelle der Ethischen Gemeinde" Wien unter Wilhelm Börner arbeitete und 1938/39 ins Exil gedrängt wurde. Die Bewältigung des Kältewinters 1928/29 durch zwei Schwestern analysiert Kyra Waldner; Quelle ist ein Tagebuch. Michael Hansel untersucht Elisabeth Reicharts Roman "Februarschatten" von 1984, der die Verdrängung von NS-Verbrechen im Mühlviertel behandelte. In einem Gastbeitrag geht Margit Gigerl (Schweizerisches Literaturarchiv) der Wirkung einer von Gertrud Willner 1979 herausgegebenen Sammlung von 28 Frauengeschichten im Vorfeld der Einführung des Wahlrechts für Frauen in der Schweiz 1971 nach.
Eine Untersuchung der Korrespondenz zwischen Theodor Mommsen und Josef Karabacek eröffnet den Block "Konflikte im institutionellen Kontext". Mommsen drängte 1886/88 den Direktor der Papyrussammlung in Wien, schnellstmöglich neuaufgefundene Texte wegen seiner eigenen begrenzten Lebenszeit zu edieren. Markus Ender schildert die politischen Erfahrungen des Herausgebers der Kulturzeitschrift Der Brenner, Ludwig von Ficker, zwischen 1934 und 1945. Weitere 13 Beiträge gelten Krisenphänomenen in Texten von Autorinnen und Autoren. Sie sind prominent (Ernst Jandl, Ingeborg Bachmann, Hermann Hesse) oder weniger prominent. Tagebücher und Briefe sowie ein Romanentwurf sind die Grundlagen. Im Abschnitt "Verlust und Verlusterfahrung" kommen die Exilsituationen nach 1938 von Theodor Kramer (nach England) und Max Zweig (nach Palästina) zur Sprache.
Der Band zeigt eindrucksvoll, dass Quellen für Krisen und deren Bewältigung in einem weiten Spektrum gesucht werden können. Hier liegt der Schwerpunkt auf Individuen, die Ego-Dokumente produzierten. Dies wirft aber die Frage auf, wie subjektive Erfahrungen und objektive Krisen vermittelt werden. Der Begriff Krise erscheint hierfür in dem allzu knappen Editorial nicht umfassend ausgelotet zu sein. Der gewählte Titel "Ausnahmezustand" lädt ja zu Reflexionen über Ausnahmen und Regeln ein. Möglicherweise führen die aktuellen Krisen zu tiefer gehenden Auslotungen. Dazu Anstöße gegeben zu haben, ist ein Verdienst dieses Bandes.
Anmerkung:
[1] Reinhart Koselleck: Krise, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, hgg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck, Stuttgart 1982, 617-650; Carla Meyer / Katja Patzel-Martern / Gerrit Jasper Schenk (Hgg.): Krisengeschichte(n). "Krise" als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Stuttgart 2013.
Wilfried Reininghaus