Meik Zülsdorf-Kersting: Geschichte und Gesellschaftslehre. Historisches Lernen in Unterrichtsreihen (= Geschichtsunterricht erforschen; Bd. 16), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, 391 S., ISBN 978-3-7344-1590-6, EUR 45,00
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Manuel Köster / Holger Thünemann / Meik Zülsdorf-Kersting (eds.): Researching History Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2014
Ulrich Baumgärtner: Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015
Manuel Köster / Holger Thünemann / Meik Zülsdorf-Kersting (eds.): Researching History Education. International Perspectives and Disciplinary Traditions, 2. vollst. überarb. u. aktual. Aufl., Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2019
Die Gestaltung und Wirkung des Geschichtsunterrichts sind nach wie vor wenig erforscht, obwohl diese Fragen angesichts veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, curricularer Vorgaben und den Bedürfnissen von Schüler*innen und Lehrpersonen wichtig bleiben. Seit den PISA-Studien und der Einführung fachspezifischer Kompetenzstandards sind etwa 20 Jahre vergangen, was die Weiterführung der phänomenologischen Geschichtsunterrichtsforschung aktuell besonders relevant macht. Diese Überlegungen motivierten den Studienautor Meik Zülsdorf-Kersting zur Durchführung der Studie "Geschichte und Gesellschaftslehre. Historisches Lernen in Unterrichtsreihen" (GuG-Studie).
Sie ist im Bereich der phänomenologischen Unterrichtsforschung angesiedelt und zielt darauf ab, Geschichtsunterricht in seiner Struktur und seinen Prozessen möglichst genau zu beschreiben sowie die Effekte und Wirkungszusammenhänge abzuschätzen. Dazu wurde eine Mixed-Methods-Studie konzipiert, die auf vollständigen Videografien von vier Unterrichtsreihen basiert. Die Datenerhebung umfasste vor- und nachgeschaltete Fragebogenerhebungen bei den Schüler*innen sowie Interviews mit den Lehrpersonen. Insgesamt nahmen vier Klassen aus zwei Gymnasien und einer integrierten Gesamtschule teil. Die behandelten Themen waren "Imperialismus und der 1. Weltkrieg", "Industrialisierung und soziale Frage" sowie "Luther und die Reformation". Die Schüler*innen waren durchschnittlich 14 Jahre alt, in einer Klasse 16-jährig. Die Videografie erfolgte mit einer Videokamera und drei Mikrofonen, was eine durchgehend gute Tonqualität der Videos ermöglichte. Das gesamte Videomaterial wurde transkribiert, um eine detaillierte Analyse zu ermöglichen.
Die Analyse der Videodaten erfolgte in zwei Schritten: zunächst die Kodierung von Sicht- und Tiefenstrukturen, gefolgt von einer theoriegeleiteten Interpretation erklärungsbedürftiger Phänomene. Die Erfassung der Sichtstrukturen orientierte sich an den Codes der Schweizer Unterrichtsstudie "Geschichte und Politik" [1] und weiteren geschichtsdidaktischen Videostudien und umfasste Variablen wie Unterrichtsdauer und Sozialformen. Die Tiefenstrukturen wurden anhand von sechs Kriterien erfasst, darunter die Artikulation historischer Denkleistungen, die Verwendung von Konzepten und historischen Fachbegriffen, metakognitive Aktivitäten sowie die Gesprächsführung der Lehrperson, einschließlich Feedback. [2] Allerdings konnten trotz der detaillierten Kodierregeln in diesem Bereich keine zufriedenstellende Reliabilität erreicht werden. Die theoriegeleitete Interpretation war weniger streng reguliert und orientierte sich an Plausibilitätskriterien und Transparenz in der Argumentation. Ziel war es, die phänomenologische Gestalt der Unterrichtsreihen möglichst gut zu bewahren und nicht durch differenzierte Kodierungen zu fragmentieren (18). Offen bleibt, inwiefern eine kommunikative Validierung im Forschungsteam stattfand.
Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Unterrichtsreihen ohne erkennbares übergeordnetes Erkenntnisinteresse durchgeführt wurden. Es fehlte die Herausarbeitung der Relevanz der gewählten Fragestellungen und historischen Sachverhalte in Bezug auf Lernziele und Erkenntnisgewinn. Die Chronologie und der temporale Ereigniszusammenhang dienten als einzige verbindende Kriterien, während Gegenwartsbezüge und metakognitive Reflexionen zumeist ausblieben. Die Unterrichtsstunden waren durchwegs materialreich ausgestattet. Die Lehrpersonen konzentrierten sich auf die Sachebene der historischen Inhalte und vernachlässigten die mentalen Operationen ihrer Erschließung. Nur in einer Unterrichtsreihe konnten historische Denkleistungen beobachtet werden. Jedoch standen auch hier methodisch-reflexive Aspekte im Hintergrund. Insgesamt förderten die videografierten Unterrichtsstunden die Schüler*innen kaum in ihrem fachbezogenen Denken. Die unterrichtliche Kommunikation folgte meist einem engen I-R-E-Muster (Initiation-Response-Evaluation-Muster), wobei die Sprechanteile der Lehrpersonen überwogen. Die Schüler*innen fügten sich insgesamt in die Rolle der pflichtschuldigen Mitarbeit und exkludierten sich damit weitgehend aus der inhaltlichen und methodischen Mitgestaltung des Unterrichts (357).
Die Ergebnisse der GuG-Studie entsprechen weitgehend den bisherigen Befunden der geschichtsdidaktischen Unterrichtsforschung. Obwohl die Lehrpersonen in den Interviews vor den Unterrichtsreihen anspruchsvolle Ideen und Konzepte äußerten, konnten diese in der Umsetzung nicht beobachtet werden. Der Studienautor vermutet, dass die Eigengesetzmäßigkeiten des sozialen Systems Geschichtsunterricht eine Rolle spielen. Die sorgfältig dokumentierte Unterrichtsanalyse ist nachvollziehbar, es stellen sich Fragen zu limitierenden Faktoren.
Fest steht, dass es sich bei den vorliegenden Befunden um Ergebnisse aus Fallanalysen auf theoretischer Grundlage des HISTOGRAPH-Projekts handelt. [3] Maßgebend war dabei insbesondere das Verständnis von Geschichtsunterricht als sozialem System, das die Förderung historischen Denkens zum Ziel habe. Auf der Basis der empirischen Befunde muss gefragt werden, ob bei den Akteuren - Lehrpersonen wie Schüler*innen - andere Ziele im Vordergrund standen wie z.B. die Aneignung historischen Wissens oder die Tradierung und Weitergabe deutscher und europäischer Masternarrative, die mit dem vorliegenden Kodiersystem nicht erfasst wurden. Hervorgehoben werden muss, dass die Stichprobe vier Lehrpersonen und deren Klassen umfasste. Eine Verallgemeinerung der deskriptiven Befunde ist demzufolge unzulässig. Vielmehr muss der Blick auf Kontexte, Strukturen und Mechanismen der Prozessgestaltung gerichtet werden. Zur Kenntnis genommen werden muss, dass trotz variierender Kontextmerkmale wie Schulform, religiöse Prägung der Schule, Alter der Schüler*innen und Lehrpersonen und Unterrichtsthema die Varianz in den Variablen zur Tiefenstruktur nicht allzu gross ausfiel. Des Weiternen ist zu vermuten, dass die Anwesenheit der Kameras einem lehrerzentrierten Unterricht Vorschub leistete. Die tontechnische Verkabelung könnte darüber hinaus als Signal gewirkt haben, dass von den Lehrpersonen eine bestimmte Performanz erwartet wurde. Inhaltlich gewichtig erscheint zudem der Entscheid, die Analyse der Chronologie der Unterrichtsreihen entlang vorzunehmen. Weiterführende Einsichten könnte allenfalls die Dekonstruktion der den Unterrichtsreihen zugrunde liegenden Narrative bieten. In der Folge ließen sich darauf bezogene Denkmuster sowie allfällige Irritationen bei den Schüler*innen erkennen. Diese könnten bei der ersten Sichtung und anlässlich des großen Datenkorpus allenfalls übersehen worden sein. Insbesondere im Falle der Unterrichtsreihe U4 in einem katholisch geprägten Gymnasium ist es überraschend, dass zum Thema "Luther und die Reformation" Gegenwartsbezüge ausblieben und Werturteile keine Rolle spielten. Hier wäre es interessant zu wissen, ob sich unter den Schüler*innen allenfalls am Rande der Unterrichtsstunden oder in den Partnerarbeiten Fragen und Irritationen ergeben haben. Geprüft werden müsste, inwiefern alternative methodische Ansätze, wie beispielsweise die dokumentarische Methode, zu weiteren Ergebnissen kämen, indem kommunikativ dichte Sequenzen nochmals vertieft analysiert und insgesamt bottum-up die Nutzer*innenseite und deren Kontexte näher betrachtet würden. Theoriegeleitete Datenanalysen sind wichtig, zugleich können sie auch den Blick für kommunikative Prozesse verengen.
Insgesamt hat das Projekt einen umfangreichen Datensatz generiert, der hoffentlich zahlreiche weitere Analysen und Einblicke in die Struktur und Prozesse des Geschichtsunterrichts ermöglichen wird. Es ist eine besondere Leistung dieser Studie, dass sie eine breite Datenbasis schafft, die potenziell unter weiteren Forschungsfragen und -perspektiven analysiert werden kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Erfassung von Unterrichtsreihen keineswegs garantiert, geschichtsdidaktisch reichhaltige Lehr-Lernprozesse vorzufinden. Die vorliegenden Ergebnisse spitzen allgemeine Fragen zur Professionsentwicklung und spezifische Fragen zur professionellen Kompetenz von Lehrpersonen mit aller Vehemenz zu.
Anmerkungen:
[1] Peter Gautschi / Daniel Moser / Kurt Reusser / Pit Wiher (Hgg.): Geschichtsunterricht heute: eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte, Bern 2007.
[2] Elmar Cohors-Fresenborg / Christa Kaune / Meik Zülsorf-Kersting: Klassifikation von metakognitiven und diskursiven Aktivitäten im Mathematik- und Geschichtsunterricht mit einem gemeinsamen Kategoriensystem, Osnabrück 2014.
[3] Sebastian Bracke, et al.: Theorie des Geschichtsunterrichts, Frankfurt am Main 2018.
Monika Waldis