Alexandra Katharina Krebs: Geschichten im digitalen Raum. Historisches Lernen in der "App in die Geschichte" (= Medien der Geschichte; Bd. 7), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, XII + 337 S., 84 Farb-Abb, 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-134927-5, EUR 74,95
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Der "Vermessung der digitalen Welt" widmet sich die Geschichtsdidaktik - sieht man von Überlegungen aus der Ära der CD-ROM ab - intensiv seit über einer Dekade. [1] Dabei wurden Potentiale digitalen historischen Lernens zwar vielfach formuliert, aber konkrete Lernprozesse nur vereinzelt in den Blick genommen.
Diese Lücke schließt die Dissertation von Alexandra Krebs, die als erste Monographie in der bis dato 7 Bände umfassenden Reihe "Medien der Geschichte" veröffentlicht wurde. Im Zentrum steht die von der Autorin entwickelte "App in die Geschichte". Das Vorhaben, diesen digitalen Lernraum sowohl theoretisch zu modellieren, pragmatisch umzusetzen als auch empirisch zu erforschen, darf als hochgradig komplex eingeschätzt werden. Der Autorin gelingt dies vor allem deshalb, weil sie den Kompass klar auf die Fachspezifik historischen Denkens und Erzählens richtet.
Bereits die Gliederung lässt eine stringente Fokussierung erkennen. Die kompakte Einleitung (Kapitel 1) skizziert inhaltliche Schwerpunkte, lerntheoretische Aspekte, einen Überblick über das App-Projekt und verortet es im Kontext von Medienkompetenz beziehungsweise Digital Literacy. Anschließend legen theoretisch-empirische Grundlagen (Kapitel 2) das Fundament für die Konzeption der App (Kapitel 3) und die empirische Begleitstudie (Kapitel 4). Die eingangs formulierte Forschungsfrage danach, wie Lernende die "App in die Geschichte" nutzen und wie sie in dieser Geschichten erzählen (13), wird im Zuge der Arbeit sukzessive konkretisiert und in der Ergebnisdarstellung (Kapitel 5, 6, 7) beantwortet.
Das Vorhaben ist einem narrativistischen Paradigma und damit historischem Erzählen als zentralem Strukturmerkmal von Geschichte verpflichtet. Entsprechend führt das Grundlagenkapitel von Überlegungen zur Theorie historischen Erzählens über entsprechende Lernprozesse hin zur Konkretisierung auf Methodenkompetenz im Modus der Re-Konstruktion, also der Fähigkeit anhand von Darstellungen und Quellen selbst historisch zu erzählen. Ihre Ausführungen verdichtet die Autorin schließlich auf Kontroversität, Multiperspektivität und Pluralität als Differenzierungsmerkmale historischen Erzählens. Kenntnisreich referiert sie den Forschungsstand, reflektiert digitalspezifische Aspekte und integriert empirische Befunde, womit eine äußerst fundierte Basis für die Gestaltung des eigenen Vorhabens sowie zukünftiger digitaler Formate historischen Lernens gelingt.
Die anschließend von der Autorin erläuterte Konzeption der App konkretisiert, wie den Herausforderungen und Potentialen historischen Erzählens im Digitalen pragmatisch begegnet werden kann. Den historischen Gegenstand der App bilden die Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Im exemplarisch vorgestellten "Story Modus Bethel" steht die Kontroverse zur Rolle Friedrich von Bodelschwinghs des Jüngeren während des Nationalsozialismus im Zentrum. Dabei wird eine geschichtspolitische Debatte über eine Straßenbenennung zum Impuls für einen "schrittweisen, vernetzten und aufeinander aufbauenden Lern- und Forschungsprozess" (157), der auf ein durch die Lernenden zu verfassendes Gutachten zielt. Herzstück der App ist ein digitales Archiv, um das die Autorin einen Raum forschend-entdeckenden Lernens im Sinne des Task-Based History Learning strukturiert. Dabei kommen vielfältige digitale Tools zum Einsatz. So soll beispielsweise ein Forschungslogbuch heuristische Prozesse unterstützen, die Annotation von Quellen zielt auf quellenkritisches Forschen, Zeitleisten adressieren die Strukturierung erster Erzählungen, Wikis bieten Hintergrundnarrationen und Etherpads ermöglichen ein asynchrones und kollaboratives, gemeinsames Arbeiten. Im von Schnelllebigkeit, hohen Erwartungen aber auch Skepsis geprägten Diskurs um digitale Anwendungen fällt besonders positiv auf, wie die Autorin diese Tools äußerst kreativ aber stets unter dem Primat der Fachspezifik historischen Lernens an empirische Befunde und normative Überlegungen rückbindet - und eben nicht umgekehrt.
Die insgesamt sehr gute Lesbarkeit der Arbeit setzt sich auch in den empirisch ausgerichteten Kapiteln fort. Insgesamt bildeten 168 Lernende ein Sample von 49 Forschungsteams aus Schüler*innen der Jahrgangsstufen 9 bis 12 an Gymnasien. Das auch von der Autorin bedauerte Fehlen von Gesamtschulen in der Stichprobe erklärt sich unter anderem mit der Corona-Pandemie. Die Schüler*innen nutzten die App im Homeschooling und bzw. oder im Geschichtsunterricht. Für die Studie kam ein paralleles Mixed-Methods-Design zum Einsatz, das Logfiles zur App-Nutzung sowie die Erzählungen der Lerngruppen als concurrent triangulation unabhängig voneinander analysiert und interpretiert (Kapitel 5, 6) und anschließend aufeinander bezieht (Kapitel 7). Hervorzuheben ist die innovative Entwicklung und Anwendung einer als Digitalforschung konzipierten Empirie, die KI-basierte Algorithmen nutzt, um durch Clustering in generierten Datensets Strukturen sichtbar zu machen. Den Einfluss derartiger Methoden bei der Erhebung und Interpretation reflektiert die Autorin stets kritisch und stellt das Studiendesign insgesamt äußerst nachvollziehbar dar.
Die Präsentation und Interpretation der Ergebnisse erfolgten im Kontext bisheriger Studien sehr umsichtig und transparent, was besonders für die qualitative Inhaltsanalyse mit Einblicken in Kategorienbildung, Codier- und Ankerbeispielen und exemplarische Narrationen gilt. An dieser Stelle seien ausgewählte Befunde skizziert, die für die Gestaltung ähnlicher Lernformate Orientierung bieten können. Das Clustering der Logfile-Daten konnte 5 Nutzungstypen der App identifizieren, was auf Potentiale individualisierten Lernens im Digitalen verweist. Hervorzuheben ist aber vor allem die jahrgangs- und nutzungstypenübergreifend intensive Arbeit der Lernenden im und mit dem digitalen Archiv. Dessen Stellenwert konnte neben der Analyse von Seitenaufrufen und Nutzungszeiten insbesondere mit Blick auf die Erzählungen der Lernenden nachgewiesen werden. Beachtliche 96 % der Teams bezogen ihre Narrationen auf Quellen aus dem digitalen Archiv, fast die Hälfte nutzte dafür multiperspektivische Quellen und immerhin ungefähr 40 % der Lerngruppen konnte ein quellenkritischer Umgang attestiert werden. Gleichzeitig sensibilisieren andere Befunde für Entwicklungspotentiale derartiger Formate. Denn im Kontrast zur umfangreichen Quellennutzung verwiesen nur die Hälfte der Teams in ihren Erzählungen auf historische Darstellungen und lediglich 7 von 49 Gruppen reflektierten deren Perspektivität. Prozesse der De-Konstruktion sollten, so die Empfehlung der Autorin, stärker auch im Digitalen fokussiert werden.
"Demokratische Gesellschaften brauchen plurale Geschichtenerzählerinnen" (308). Diese wiederum bedürfen Räume, in denen sie das Entdecken und Erzählen dieser Geschichten erlernen können. Es ist das große Verdienst der Autorin, einen dieser Räume didaktisch reflektiert und kreativ umgesetzt, methodisch innovativ erfasst und überaus konzise vorgestellt zu haben. All Jenen, die sich in Schule, Museum, Archiv oder Gedenkstätte der Entwicklung digitaler Formate zuwenden, sei die Arbeit mit größtem Nachdruck empfohlen.
Die Studie ist zudem ein beachtlicher Schritt hin zur Professionalisierung geschichtsdidaktischer Digitalforschung.
Anmerkung:
[1] Vgl. Christoph Pallaske: Die Vermessung der (digitalen) Welt, in: Geschichte lernen im digitalen Wandel, hgg. von Marko Demantowsky / Christoph Pallaske, Berlin / Boston 2015, 135-148. Der zugehörige Sammelband bzw. die vorausgegangene interaktive Netztagung im Jahr 2013 dürften im Rückblick erste Orientierungen der Geschichtsdidaktik im Feld historischen Lernens unter digitalen Bedingungen markieren. Vgl. die Rezension von Christian Bunnenberg: https://www.sehepunkte.de/2018/07/25808.html (03.02.2025).
Anja Neubert