Rezension über:

Ann-Kathrin Reichardt / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1959. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, 320 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31124-0, EUR 30,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Andreas Malycha
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Malycha: Rezension von: Ann-Kathrin Reichardt / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1959. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 4 [15.04.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/04/37316.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Ann-Kathrin Reichardt / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1959

Textgröße: A A A

Der vorliegende Band ist Teil der Edition zu den Berichten der Zentralen Informationsgruppe (ZIG) bzw. der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für die SED-Führung. Die von Ann-Kathrin Reichardt und Martin Stief bearbeiteten Berichte aus dem Jahr 1959 ermöglichen aufschlussreiche Einblicke in die gesellschaftspolitischen Spannungsfelder am Ende der 1950er Jahre. Dazu gehören insbesondere Informationen über Probleme der zentral gesteuerten ostdeutschen Wirtschaft. Mit dem zweiten Fünfjahresplan für die Jahre von 1956 bis 1960 ging die DDR-Ökonomie endgültig den Weg einer Planwirtschaft sowjetischen Typs, bei dem die Produktion und Konsumtion von Gütern sowie Preise und Löhne vollständig von einer zentralen Instanz festgelegt wurden. Die Fokussierung des MfS auf die Wirtschaft folgte der Maxime der SED-Führung, die den Systemwettbewerb zwischen Ost und West auf diesem Feld in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt hatte. Parteichef Walter Ulbricht gab auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 das ökonomische Ziel aus, den Pro-Kopf-Verbrauch der Bundesrepublik bei allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern bis 1961 auch in der DDR zu erreichen und sogar zu übertreffen. Der Inhalt dieser "ökonomischen Hauptaufgabe" schlug sich in der griffigen Formel "Einholen und Überholen" nieder.

Bei den Berichten über die wirtschaftliche Lage dominieren die Informationen über Missstände, Produktionsausfälle, Unfälle und Havarien in einzelnen Industriebetrieben. Aber auch einzelne Unmutsäußerungen über die schwierige Versorgungslage im Konsumgüterbereich und die schlechte Bezahlung der Industriearbeiter werden erwähnt. Besondere Aufmerksamkeit widmete das MfS auch der Energieversorgung, da Havarien in den Braunkohletagebauen und Brikettfabriken zu massiven Energieproblemen geführt hatten. In der Regel führte das MfS die wirtschaftlichen Missstände auf das angebliche Fehlverhalten einzelner Verantwortlicher in den Leitungen bzw. auf die Inkompetenz des leitenden Personals zurück. Doch zur Kritik an den deutlich zu hoch gesteckten ökonomischen Zielsetzungen des V. Parteitages von 1958 konnte sich das MfS nicht durchringen. Das selbst erklärte Ziel, die Bundesrepublik im Lebensstandard und beim Konsum zu übertreffen, war seit 1960 nicht mehr aufrechtzuerhalten. Nachdem ein bescheidener Aufschwung in vielen Wirtschaftsbereichen erzielt werden konnte, kam es flächendeckend zu erheblichen Einbrüchen bei der Produktion in Industrie und Landwirtschaft. Die Wirtschaft drohte im Herbst 1960 völlig aus den Fugen zu geraten.

Des Weiteren sah das MfS beunruhigt auf die stetig steigenden Fluchtzahlen. So übte das deutlich sichtbare Anwachsen des Wohlstandes in Westdeutschland und West-Berlin im Lauf der 1950er Jahre eine enorme Sogwirkung auf die ostdeutsche Bevölkerung aus. Das Wohlstandsniveau Westdeutschlands wurde zum Gradmesser für die Bewertung der ostdeutschen Versorgungssituation. Auf diese Weise entwickelte sich die Westwanderung von qualifizierten Arbeitern sowie Fach- und Hochschulabsolventen zu einem existenziellen Problem für die DDR. Für die Bereiche Wissenschaft und Medizin zeichnete das MfS in einem Bericht vom März 1959 ein alarmierendes Bild. Als hauptsächlichen Grund der "Republikflucht" nannte der Bericht "politisch-ideologische Unklarheiten" sowie "bürgerliche Auffassungen und kirchliche Bindungen" in den "Kreisen der Intelligenz". (139) Wiederholt verwies das MfS auf die Abwerbung von namhaften Wissenschaftlern durch westliche Geheimdienste als eine "Hauptform der Feindtätigkeit". (189) Auch die Kriminalisierung sowie die verstärkte Überwachung, Beobachtung und Kontrolle der Fluchtbewegung durch Polizei und Staatssicherheit konnten diese nicht nennenswert aufhalten.

Die Berichte des MfS über ausgewählte aktuelle Probleme in Politik, Wirtschaft, Ökonomie und Gesellschaft ermöglichen Einblicke in das Stimmungs- und Lagebild in der DDR zwei Jahre vor dem Mauerbau. In der Regel erhielten Politbüromitglieder, aber auch Regierungsvertreter nur jene Informationen, die zu ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich zugeordnet werden konnten. Die wirklich brisanten Lageeinschätzungen und Analysen blieben unter Verschluss und der internen Auswertung des MfS auf der oberen Leitungsebene vorbehalten. Doch sind auch diese internen MfS-Berichte mit Vorbehalten zu werten. Insbesondere die Berichte über die Bevölkerungsstimmung verdeutlichen die tendenziöse Informationspolitik des MfS. Da die aus den Bezirksdienststellen des MfS und den Abteilungen der Zentrale kommenden Informationen mehrere Filter durchliefen, in denen allzu brisantes Material abgeschwächt oder gänzlich herausgenommen wurde, spiegelten die in der ZIG zusammengefassten Informationen für die Führungsmitglieder nur Teile der ursprünglichen internen Lageeinschätzungen des MfS wider.

Festzuhalten bleibt, dass sich in den von Ann-Kathrin Reichardt und Martin Stief sachkundig bearbeiteten Dokumenten trotz einer deutlichen Selbstzensur und einer ideologisch bedingten Wahrnehmungsverzerrung wesentliche Krisensymptome in Gesellschaft, Politik und Ökonomie am Ende der 1950er Jahre offenbarten, die letztlich zum Mauerbau im August 1961 führten. Die von der ZIG an ausgewählte Politbüromitglieder übermittelten kritischen Lageeinschätzungen beförderten innerhalb der SED-Führung kein Umdenken und bewirkten somit politisch kaum etwas, weil die Führungselite der SED unbequeme Wahrheiten lediglich zur Kenntnis nahm. So präsentierte sich das MfS nicht nur in den 1950er Jahren der politischen Führung lediglich als Mahner und nicht als politischer Stratege. Letztlich sah sich das MfS auch nicht dazu berufen, der politischen Führung einen systemkonformen Ausweg aus den ständig wiederkehrenden Gesellschaftskrisen vorzuschlagen.

Andreas Malycha