Lucy Grig: Popular Culture and the End of Antiquity in Southern Gaul, c. 400-550, Cambridge: Cambridge University Press 2024, XI + 260 S., ISBN 978-1-108-49144-0, GBP 85,00
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Mit Popular Culture and the End of Antiquity in Southern Gaul, c. 400-550 legt Lucy Grig eine historische Studie über das in der Vormoderne aufgrund einer komplexen, oftmals lückenhaften oder gar tendenziösen Quellenlage nicht einfach zu fassende Phänomen "populärer" Kultur vor. Erschwert wird dieses Unterfangen ferner durch den gewählten Untersuchungsrahmen, namentlich die Übergangsphase zwischen Spätantike und Frühmittelalter zwischen den Jahren 400 und 550, den Grig geographisch, wenngleich stets mit Verweisen auf Befunde aus anderen Regionen, auf Südgallien mit einer sichtlichen Schwerpunktlegung auf Arles eingrenzt. Dieser Herausforderung wird die Autorin durch eine akribische Analyse der archäologischen und literarischen Zeugnisse erfolgreich Herr. Über ihren Ansatz vermag sie die 'populäre' Kultur, die zwangsläufig von einer "elitären" Ausprägung abzusondern ist, als Phänomen näher zu erfassen. Wenngleich bei dem Differenzierungsversuch die ersten wesentlichen Schwierigkeiten zutage treten, wirft Grig einen neuen Blick auf die umfassenden Transformationen, aber eben auch deutlichen Kontinuitäten der behandelten Epoche, die in jüngster Zeit mittlerweile auch literaturwissenschaftlich verstärkt beleuchtet und immer häufiger als eigenständiger Zeitabschnitt kategorisiert wird.
Ausgehend von einem Aufsatz von Stuart Hall [1] definiert Grig 'popular culture' als "multifaceted", die "substantive activities" wie "festive behaviour, singing, dancing, eating and drinking, and insubordination, as well as tactics of memorization and knowledge transfer among the non-literate" (4) umfasse. Ebenso bestehe sie aus "strategies and techniques for interacting with structures of power" (4). Implizit möchte sie die seit Peter Brown ins terminologische Repertoire zur Erforschung der ausgehenden Antike festübernommene "Transformation" auf kultureller, sozialer und religiöser Ebene "through the prism of the study of popular culture" (111) in den Blick nehmen und dabei auf eine bisherig dominante, quellenbedingte "top-down"-Perspektive verzichten. Stattdessen setzt sie auf eine "bottom-up"-Sichtweise, ohne jedoch schlicht den Ansatz umzukehren. Entsprechend beabsichtigt sie eine Reevaluation und Neubewertung durchzuführen, die insbesondere die Verschränkungen der unterschiedlichen Bevölkerungsmilieus berücksichtigt. Wesentlich für ihre Adjustierung der Transformationsinterpretation erweisen sich die Begriffe bzw. Konzepte der zunehmenden 'Christianisierung' und 'Demokratisierung der Kultur'. Ersteres, vor allem auf der Arbeit von William Klingshirn fußend [2], sieht sie simultan als "top-down process employed by the church authorities, as a strategy of local landowners and other elites and as a collaborative construction of communities and individuals" (33). "Democratization of culture" basiert auf einem Konzept von Santo Mazzarino [3], das sie nutzt, um eine Wechselbeziehung, um wortwörtlich "the interaction of cultural and social forces and forms in late antiquity" herauszuarbeiten (34), die wiederum "on behalf of the church" von ihren Repräsentanten wie Caesarius von Arles (ca. 470-542) unter "social and cultural control" gebracht werden sollten (35). In den jeweiligen Analysen werden zudem noch mitunter genderspezifische Betrachtungsweisen, das Habitus-Modell Pierre Bourdieus sowie das Konzept der 'lived religion' appliziert.
Die aus sieben Kapiteln bestehende Studie beginnt, nach den methodischen Klärungen (Kapitel 1), mit einer archäologischen Bestandaufnahme und Kontextualisierung der (spät-)antiken Stadt (Kapitel 2). Materielle Befunde aus den Städten Marseille, Narbonne, Aix und Arles werden miteinander verglichen und ebenfalls mit den umfassenden Erkenntnissen aus Pompeji und Aphrodisias kontrastiert bzw. zur Rekonstruktion oder Erklärung herangezogen. Im dritten Kapitel folgt eine Analyse der ländlichen Bevölkerung und ihrer kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umgebungen. In den drei nachfolgenden Kapiteln werden primär die historischen Zeugnisse ausgewertet, wobei Arles aufgrund seiner Bedeutung als literarischer Knotenpunkt im Zentrum ihrer Untersuchung steht. Der Vita Bischofs Honoratus von Arles (ca. 430 gestorben), die sein Nachfolger Hilarius von Arles (401-449) verfasst hat, wie auch den Predigten Caesarius' von Arles (ca. 470-542) kommen dabei besondere Aufmerksamkeit zu. Im vierten Kapitel analysiert Grig die Predigten Caesarius' und zeigt anhand des Konzeptes der rusticitas sowie der scurrilitas auf, wie der Bischof "unauthorized culture", d.h. spezifische kulturelle Ausdrucksformen, zu bestimmen und nach eigenen Verständnissen zu prägen und zu kontrollieren suchte. Mit dem mitunter von Robert Orsi geprägten Begriff der 'lived religion' [4], d h. mit einer gleichsam praxeologischen Perspektivierung, analysiert die Autorin sodann die 'alltäglichen' religiösen Praktiken der vornehmlich ländlichen Bevölkerung. Das Augenmerk setzt sie vor allem auf die feierliche Gestaltung des Johannistages, wofür sie mitunter ebenso die Predigten des Caesarius in den Blick nimmt. Die für den Untersuchungsgegenstand wesentliche Fallstudie liefert das sechste Kapitel, in dem Grig die römisch-pagane, dreitätige Feierlichkeit an den Kalenden des Januars, die sich erstaunlicherweise bis in das 7. Jahrhundert nachweisen lässt, als exemplarischen Ausdruck persistenter 'heidnischer' 'popular culture' betrachtet. Im Vordergrund steht, neben der vermeintlichen Ausgestaltung in der Spätantike, ihre Bedeutung für die kulturelle (gallische) Landschaft, ihre vermeintlich subversive Dimension sowie ihre Beziehung zur dominanten christlichen Kultur. Im abschließenden Kapitel fasst die Autorin ihre Ergebnisse knapp zusammen und führt weiterführende Überlegungen zur 'popular culture' aus.
Lucy Grigs äußerst dichte Studie verfolgt zwei Ziele: Zum einen möchte sie sich mithilfe des Begriffes der 'popular culture' dem komplexen und, oftmals abhängig von Region und Zeitabschnitt, äußerst asymmetrischen Wandel zwischen Spätantike und Frühmittelalter aus einer neuen Perspektive annähern. Zum anderen möchte sie aber, wie sie selbst mehrfach feststellt, die bislang in der Forschung prädominanten 'top-down'-Zugriffe und die dazugehörigen "ideologischen" Facetten (bes. 122) dekonstruieren. Beides ist ihr sichtlich geglückt, wie vor allem das sechste Kapitel, die analytische Kulmination ihrer Studie, eindrucksvoll belegt. Einzig ihre Terminologie wird sicherlich in der nicht-anglo-sächsischen Forschungsumgebung zu Widerspruch führen. Insbesondere scheint mir, neben der Nutzung des 'class'-Begriffes zur Denotation unterschiedlicher sozialer Gruppen oder 'communites', das Konzept der "democratization of culture" problematisch. Hier wäre es, auch in Anbetracht des Forschungsgegenstandes, womöglich besser gewesen, von einer 'popularization of culture' zu sprechen. Auch Bourdieus Feldtheorie, die ohnehin komplementär zu dem von Grig punktuell eingesetzten Habitus-Modell ist, hätte sich womöglich gut mit ihrem Ansatz vertragen. Diese Anmerkungen ändern jedoch nichts an dem grundsätzlichen Erkenntnisgewinn aus der auch stilistisch sehr gut zu lesenden Monographie, in der die Autorin es erfolgreich schafft, sich dem schwierig zu fassenden Phänomen der spätantiken 'popular culture' anzunähern.
Anmerkungen:
[1] Stuart Hall: Notes on Deconstructing the "Popular", in: People's History and Socialist Theory, ed. by Raphael Samuel, London 1981, 227-240.
[2] Caesarius of Arles: The Making of a Christian Community in Late Antique Gaul, Cambridge 1994.
[3] Santo Mazzarino: La democratizzazione della cultura nel Basso Impero, in: Rapports du Iie congrès international des sciences historiques 2 (1960), 35-54.
[4] Robert Orsi: The Madonna of 115th Street. Faith and Community in Italian Harlem, 1880-1950, New Haven, CT 22002.
Tristan Spillmann