Rezension über:

Johannes Mühle: Un-Friedensstaat DDR. Mobilmachung, Kriegsbereitschaft und Militarisierung zwischen 1970 und 1990 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 123), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2024, XII + 502 S., 10 Farb-, 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-79387-4, EUR 118,00
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Rezension von:
Heiner Bröckermann
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Heiner Bröckermann: Rezension von: Johannes Mühle: Un-Friedensstaat DDR. Mobilmachung, Kriegsbereitschaft und Militarisierung zwischen 1970 und 1990, Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 4 [15.04.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/04/39255.html


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Johannes Mühle: Un-Friedensstaat DDR

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Johannes Mühle geht in seiner Dissertation der Frage nach, wie sich die militärische Mobilisierung der DDR konkret organisieren ließ und wie sich die im Nationalen Verteidigungsrat der DDR getroffenen Entscheidungen auf die Bezirksebene auswirkten. Dort lag vieles in der Hand der Provinzfürsten der SED, der Ersten Sekretäre der Bezirke. Und mit dem Blick auf die Planungen zum Krieg ergab sich die Frage nach Unterschieden zwischen der Organisation der Landesverteidigung an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zum Hinterland der DDR, etwa entlang der Oder. Der Bezirk Frankfurt/Oder sollte daher auch einen besonderen Platz in der Studie Mühles erhalten. In der Betrachtung des Kreises Fürstenwalde als "Rückzugsraum für die Partei- und Verwaltungseliten" verweist Mühle zudem auf den Wert der Überlieferungen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR für die regionalen Ebenen der Mobilmachung.

Mühle holt weit aus, bevor er zum Beispiel auf Bezirksebene kommt. Er beginnt in seinem chronologischen Abschnitt mit der historischen Entwicklung der DDR-Mobilmachung; dabei geht es um Planübungen auf höchster militärischer Ebene. Anschließend schildert Mühle Bedrohungsperzeptionen, Doktrinen, Strategien und den Platz der DDR in den Konzepten der Sowjetunion.

Der Autor befasst sich anschließend mit Einzelaspekten der Mobilmachung seit dem 19. Jahrhundert. Die Beschreibung der Mobilmachungsvorgaben bis in die 1960er Jahre ist aufgrund der Tatsache interessant, dass die DDR es erst nach dem Mauerbau wagen konnte, im Jahr 1962 die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Mehr ins Detail führen die Abschnitte zu den Mobilmachungsplanungen der Nationalen Volksarmee (NVA) mit den Plänen MP-4 bis MP-70/1. Dabei gab es auch bereits den Teil C für die "politische Arbeit während der Mobilmachung zur Aufrechterhaltung von Moral und Disziplin" (87). Eine neue Qualität zeigte dann die Übung PRÜFFELD 1971, dabei Übungsanteile zur Aufstellung der 72. motorisierten Schützen-Division auf der Basis der Unteroffizierschule I in Haide bei Weißwasser. Das Beispiel sollte zum Standard werden. Daneben hatten die Übungen FRÜHLING 70 und SOMMER 70 die Überführung der aktiven Verbände der NVA vom Friedens- in den Verteidigungszustand zum Inhalt. Dabei zeigte sich der unbedingte Wille zur Geheimhaltung. So wollte man eher eine Mobilmachung in Stufen, um nicht zu früh Informationen über Mobilmachungsverbände und Orte bekannt werden zu lassen.

Die vertiefende Beschreibung und Analyse der Mobilmachungsanstrengungen der DDR wird mit der Betrachtung der personellen Ressourcen fortgesetzt. Interessant ist, dass bei der Ausplanung (bis hin zur "Zurückstellung vom Wehrdienst im Verteidigungsfall") von Personal, das als unzuverlässig eingeschätzt wurde, nicht nur der übliche, unmerkliche Verzicht auf eine vermeidbare Konfrontation mit Andersdenkenden eine Rolle spielte, sondern auch das Funktionieren der NVA im Mobilmachungsfall.

Der Nutzbarmachung der zivilen Infrastruktur (wenn es ziviles in der Reinform überhaupt in der militarisierten DDR gab) für den Krieg ist ein weiterer Abschnitt der Studie gewidmet. Dazu zählen auch Ausführungen über die zivilen Spezialformationen für Transportmittel und -anlagen. Ein besonders wichtiges Feld der Mobilmachung sind unterstützende und vorbereitende Aufgaben der Volkswirtschaft und staatlichen Verwaltung. Eine umfassende Untersuchung der wirtschaftlichen Mobilmachung der DDR bleibt Mühle zufolge aber weiterhin ein Desiderat der Forschung.

Der Autor widmet sich auch der "ideologischen Mobilisierung der Bevölkerung" (9). Insgesamt will er neue Beiträge zu einer "Vermessung der Militarisierung in der DDR" leisten (10). Er scheint dabei der Auffassung zu sein, dass die Militarisierung der DDR militärischer Zweckmäßigkeit folgte. Bislang gilt, dass die Militarisierung der DDR mit dem "militarisierten Sozialismus" (13), ein Ausdruck des Versuchs der SED war, die Parteimacht überall durchzusetzen. Synergieeffekte vom Erhalt der Parteimacht und Ausbau der Landesverteidigung in der DDR gelten daher bislang eher als Zufallsprodukte. So ist die "Militanz der Staatspartei SED mit ihren bewaffneten Funktionären" wohl nicht nur die Reaktion auf unwillige Wehrdienstverweigerer oder "Feinde im Innern", wie Mühle resümiert (392), sondern weist eher auf das Innerste von Partei und Staatssicherheit hin, die den Kampf und Terror gegen Andersdenkende als Teil ihrer Aufgabe bzw. ideologischen Sendung begriffen.

Die Tiefenmessung der Mobilmachungsanstrengungen ist Thema der Fallstudie zum Bezirk Frankfurt/Oder und des Kreises Fürstenwalde. Neben den infrastrukturellen Herausforderungen wird dabei auch deutlich, dass die Mangelwirtschaft der DDR bis in die 1980er Jahre die Anforderungen aus einer Mobilmachung erfüllen sollte. Erschwerend kam hinzu, dass das Personal in Fabriken zum Militärdienst oder zu Hilfsleistungen eingezogen werden musste. So hätte das Kunststoffwerk Erkner bei einer Mobilmachung etwa 40 Prozent der Belegschaft durch Dienst in der NVA, den Kampfgruppen der Arbeiterklasse oder bei der Zivilverteidigung verloren. Schlecht war im Bezirk Frankfurt/Oder das Schutzbautenprogramm für die Bevölkerung und für geschützte Führungsstellen von Partei und Verwaltung.

Johannes Mühle verdient Anerkennung für seine Studie zur Mobilmachung, die eine umfassende Betrachtung eines Staates erfordert. Ganz gelungen ist ihm dies nicht, wie er selbst für Einzelaspekte eingesteht. Die Zukunft mag zeigen, ob der Begriff vom "militarisierten Sozialismus" (13) wirklich ausgedient hat. Mühle sieht jedenfalls in seinem Fazit ausgehend vom Primat der SED eine Art von Selbst-Militarisierung durch Mobilmachungsübungen und der nachhaltigen Übernahme von militärischer Stabskultur in die zivile Verwaltung und Wirtschaft. Interessant wäre auch die Frage nach den Unterschieden zwischen einem Bezirk an der Grenze zum Westen, wie dem Bezirk Magdeburg und einem Bezirk im Hinterland wie dem hier untersuchten Bezirk Frankfurt/Oder. Ein Desiderat wird künftig der direkte Vergleich der Mobilmachungsanstrengungen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sein. Hierzu hat Mühle seinen Beitrag geleistet.

Heiner Bröckermann