Rezension über:

Matthias Schnettger: Das 17. Jahrhundert. Krisen, Kriege, Konsolidierungen (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte; Bd. 54), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, XI + 336 S., 3 Farb-Abb., ISBN 978-3-11-073767-7, EUR 24,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Guido Braun
Département d'histoire, Université de Haute-Alsace, Mulhouse
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Guido Braun: Rezension von: Matthias Schnettger: Das 17. Jahrhundert. Krisen, Kriege, Konsolidierungen, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 4 [15.04.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/04/39553.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Matthias Schnettger: Das 17. Jahrhundert

Textgröße: A A A

Seit gut vier Jahrzehnten vermitteln die Bände der Reihe "Oldenbourg Grundriss der Geschichte" (OGG) Studierenden und Lehrenden eine zuverlässige Orientierung über die europäische und zunehmend auch die außereuropäische Geschichte. Durch ihre Dreiteilung in einen als Überblick konzipierten Darstellungsteil (I), die Einführung in ausgewählte Probleme und Tendenzen der jüngeren Forschung (II) sowie eine gegenüber anderen Handbuchreihen vergleichsweise detaillierte, übersichtlich gegliederte Bibliographie der für die behandelte Thematik zentralen Quellen und Forschungsliteratur (III) sind die Bände nicht nur für Einsteiger, sondern oftmals auch für Forschende durchaus nützlich. Alle diese allgemeinen Vorzüge der Reihe gelten in besonderer Weise für den im vergangenen Jahr von Matthias Schnettger vorgelegten 54. Band zum 17. Jahrhundert.

Dennoch weist dieses Buch mit seiner Konzentration auf ein einziges Jahrhundert der frühneuzeitlichen Geschichte (auch wenn es, ein "langes" 17. Jahrhundert betrachtend, durchaus insbesondere auf das frühe 18. ausgreift) vom chronologischen Zuschnitt her eine bemerkenswerte Besonderheit auf. Bislang gab es aus der Perspektive der 53 OGG-Bände eine deutsche bzw. europäische Geschichte vor dem Westfälischen Frieden, die mit der Reformation einsetzte, und eine solche nach 1648, mit der Französischen Revolution endend. Dabei wurde die erstere Teilepoche unter dem Titel "Reformation und Gegenreformation" von Heinrich Lutz (5. Aufl. von Bd. 10, 2002), dann unter dem - der Kritik am Konzept der "Gegenreformation" als Epochenbezeichnung Rechnung tragenden - neuen Titel "Von der Reformation zum Westfälischen Frieden" von Alfred Kohler (Bd. 39, 2011) behandelt. Im Jahr 2015 gaben der ursprüngliche Autor des Bandes "Das Zeitalter des Absolutismus" Heinz Duchhardt und sein Schüler Matthias Schnettger den bereits 2007 in "Barock und Aufklärung" umbenannten 11. Band zur Teilepoche nach 1648 in der 5. Auflage heraus. Auch bei diesem Band erfolgte die Umbenennung angesichts der kritischen Einwände gegen das im ursprünglichen Titel benutzte Leitkonzept als Epochensignum.

Wenngleich Schnettgers hier besprochener Band dem Westfälischen Frieden keineswegs einen gewissen Zäsurcharakter abspricht, ist die Begrenzung auf das 17. Jahrhundert nicht nur angesichts einer immer komplexeren und verästelten Forschung, sondern auch für ein besseres Verständnis des behandelten Zeitraumes in seiner Gesamtheit sinnvoll, dessen Mitte damit nicht als bloßer Abschluss der früheren eineinhalb Jahrhunderte bzw. als Ausgangspunkt für ein neues, "westfälisches" Zeitalter betrachtet wird. Die ursprünglichen Bände der Reihe hatten durchaus ihre Berechtigung, aber Schnettgers Band bietet mit dem veränderten Zuschnitt doch eine neue, bereichernde Perspektive. Die neue chronologische Aufteilung entspricht im Übrigen auch Tendenzen in der internationalen Geschichtswissenschaft: Einen Band zum 17. Jahrhundert, der oft bis zum Tode König Ludwigs XIV. 1715 reicht, bieten etwa auch die wichtigen französischen Handbücher.

Der Verfasser stellt seiner Darstellung im Untertitel des Buches drei Leitbegriffe voran, die in der Tat Kernprobleme des behandelten Säkulums abbilden: Zweifellos war das 17. Jahrhundert ein durch "Kriege" geprägtes, von Teilen der jüngeren Forschung "bellizistisch", von einigen Zeitgenossen "eisern" genanntes Zeitalter, nicht nur aufgrund des Dreißigjährigen Krieges in der ersten Jahrhunderthälfte, sondern auch wegen der zahlreichen militärischen Konflikte in den darauffolgenden Jahrzehnten bis hin zum Spanischen Erbfolgekrieg im beginnenden 18. Jahrhundert. Gerade (aber keineswegs ausschließlich) die angelsächsische Forschung interpretiert diese Kriege als Manifestationen grundlegender Krisenphänomene, womit wir bei einem weiteren Kernbegriff von Schnettgers Untertitel wären, den "Krisen". Beide Begriffe sind in der Forschung für diesen Zeitraum gut eingeführt. Einen originellen Blick auf das Thema verrät die Auswahl des dritten Konzepts, der "Konsolidierungen". Selbstverständlich ist die Einsicht, dass das 17. Jahrhundert neben Krisen und Kriegen auch Formen der Krisen- und Konfliktbewältigung kannte, sie fortentwickelte und damit zu Lösungen kam, keineswegs neu, aber diesen Gedanken in einem dritten Begriff des Untertitels aufzugreifen und damit prominent zu platzieren, ist keineswegs konventionell und der Sache dabei doch völlig angemessen.

Der darstellende Teil (I) wird im Anschluss an eine konzise Einführung von zwei strukturgeschichtlichen Kapiteln eingerahmt, die erstens Europa um 1600 und zweitens den Kontinent um 1700 skizzieren. Neben den politischen, sozialen, ökonomischen und religiös-konfessionellen Strukturen sowie den klimatischen Bedingungen werden dabei individuelle Schwerpunkte im Bereich der Wissensgeschichte und der Stellung Europas in der Welt bzw. der Globalisierungstendenzen gesetzt. Zwischen diesen beiden strukturell konzipierten Kapiteln stehen drei Kapitel, welche die Geschichte des 17. Jahrhunderts chronologisch, dabei aber problemorientiert behandeln. Kapitel 3 befasst sich mit dem Kernkonflikt des Dreißigjährigen Krieges unter Einbeziehung des langen Weges in den Krieg und der ebenso langwierigen Wiederherstellung des Friedenszustandes nach dem Friedensschluss. Kapitel 4 analysiert die "Konflikte" und ihren Gegenpart "Konsolidierungen" anhand von fünf ausgewählten Mächten bzw. Mächtegruppierungen, wobei mit der inneren Entwicklung Probleme und Formen von Staatsbildung in den Mittelpunkt gerückt werden: erstens Frankreich "auf dem Weg zur absoluten Monarchie" seit Heinrich IV., zweitens die skandinavischen Reiche unter der Leitfrage, ob hier ein "verfassungsmäßiger Absolutismus" etabliert worden sei, drittens das Reich, Kaiser und Stände (fokussiert auf die Zeit nach 1648), viertens die britischen Inseln seit Jakob I./VI. und fünftens die Vereinigten Niederlande, ein ganz neuer europäischer (und globaler) Player im Zeichen seines "Goldene[n] Zeitalter[s]". Im Hinblick auf den außerdeutschen Raum erreicht die Darstellung eine Differenziertheit, welche die früheren Frühneuzeit-Bände mit ihrem breiteren chronologischen Zuschnitt nicht bieten konnten. Kapitel 5 behandelt schließlich mit "Diplomatie und Kriege[n] im Zeitalter Ludwigs XIV." Probleme, die von Teilen der Zunft als konventionell angesehen werden, aber für die Zeitgenossen drängend waren und von der jüngeren Forschung mit Methoden und Erkenntnissen untersucht wurden, die zweifellos innovativ sind. Das Kapitel greift mit den Türkenkriegen und dem Nordischen Krieg (der längsten militärischen Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts) im Übrigen auch aus einer westlichen Sicht heraus oft vernachlässigte Konflikte auf. Alle diese Strukturen, Entwicklungen und Probleme stellt Schnettger sehr zuverlässig und auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes dar.

Der Forschungsteil (II) greift acht Themenfelder heraus, die in einem solchen Band sämtlich ihre Berechtigung haben und auch unterschiedliche Lebensbereiche ausgewogen repräsentieren. Neben Problemen von Außenbeziehungen, der sich wandelnden Reichsgeschichte, der - nicht ausschließlich um das "Absolutismus"-Konzept kreisenden - Entwicklung politischer Herrschaft und der - keineswegs bloß politischen - Komplexität des Dreißigjährigen Krieges rücken dabei Konfessionskulturen und -konflikte, zumindest mit Fürstinnen und Mätressen gendergeschichtliche Fragestellungen, das europäisch-osmanische Verhältnis auch jenseits des "Erbfeind"-Paradigmas sowie das originelle Themengebiet von Katastrophen und deren Bewältigung in den Fokus.

Bei einem solch eindrucksvollen Œuvre betrifft die Kritik Details: Auch wenn in der Reihe ein Fazit nicht unbedingt üblich ist, lässt ein Werk ohne Schluss die Leserschaft mit einer gewissen Perplexität zurück. Die weitgehende Konzentration auf deutsch- und englischsprachige Titel ist angesichts der heutigen Lesekompetenzen nachvollziehbar, aber gerade in den Bereichen Absolutismus und Ludwig XIV. entsteht durch die Aussparung einschlägiger französischer Forschungsbeiträge eine unvollständige Sicht auf die Forschungsgeschichte. Ohne die grundlegenden Werke von Arlette Jouanna und Fanny Cosandey lässt sich die (in Frankreich gerade auch von Historikerinnen geprägte) Diskussion um den französischen "Absolutismus" nicht prägnant wiedergeben. Allerdings werden französische Titel keineswegs ganz ausgespart und es finden sich auch nützliche Hinweise auf Übersetzungen. So findet in der einschlägigen Forschungsdiskussion etwa der dritte Band der von Georges Duby und Michelle Perrot herausgegebenen fünfbändigen "Geschichte der Frauen", die 1993 bis 1995 in einer deutschen Gesamtausgabe von Heide Wunder publiziert wurde, durchaus seinen verdienten Platz.

Insgesamt betrachtet legt Matthias Schnettger einen konzisen Überblick über die Geschichte des "langen" 17. Jahrhunderts mit differenzierten Einblicken in zentrale Forschungsprobleme, einer weiterführenden Bibliographie, einer Zeittafel mit individuellen Schwerpunkten etwa in der Wissensgeschichte, Kartenmaterial (mit kurzen, für Anfänger hilfreichen Hinweisen zur Komplexitätsreduktion) nebst das Werk optimal erschließenden Verzeichnissen und Registern vor. Den mit dem Erscheinen eines neuen OGG-Bandes verbundenen hohen Erwartungen wird voll und ganz entsprochen.

Guido Braun