Jean-Pierre Rothschild / Caroline Heid: La Bibliothèque de l'abbaye de Clairvaux du XIIe au XVIIIe siècle. Tome II: Les Manuscrits conservés. Troisième partie: Sermons et instruments pour la prédication Manuscrits des cotes O, P, Q (= Documents, Études et Répertoires; 91), Paris: CNRS Éditions 2021, 502 S., ISBN 978-2-271-13787-6, EUR 120,00
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Die Bibliothek der Abtei von Clairvaux war im Mittelalter ein Zentrum geistig-geistlichen Lebens, wichtig nicht nur für den Zisterzienserorden, sondern weit darüber hinaus. Sie gehörte zu den reichsten Europas und umfasste 1472 knapp 1.800 Handschriften. Kataloge, die den exorbitanten Bücherbestand vor 1472 erfassten und erschlossen, existieren: André Vernet gab sie im Jahr 1979 heraus (La bibliothèque de l'abbaye de Clairvaux du XIIe au XVIIIe siècle, t. I). Seine Kollegen in der Abteilung für Kodikologie des Institut de recherche et d'histoire des textes (IRHT), Jean-Paul Bouhot und Jean-François Genest, veröffentlichten 1997 die Beschreibungen von mehr als der Hälfte der knapp über 1.000 Codices, die vom Katalog von 1472 erfasst worden waren und die Zeitläufte überdauert hatten. Nach einem Jahrzehnt des Stillstands setzte die section latine des IRHT dieses Programm ab 2007 mit der Erfassung zahlreicher, Florilegien, Predigten, Hagiographica und Liturgica umfassender Sammelhandschriften fort.
Im Jahr 2021 erschien nun, verantwortet von Jean-Pierre Rothschild und Caroline Heid, ein Katalog, der vor allem diejenigen Handschriften erschließt, die Predigten und die für die Predigtvorbereitung zentralen Werke (Praedicabilia) enthalten. Ihre Arbeit, qualitativ über jeden Zweifel erhaben und von einer stupenden Gelehrsamkeit zeugend, wurde durch die Verleihung des Duchalais-Preises der Académie des inscriptions et belles-lettres im Jahr 2023 zu Recht gewürdigt. Das Projekt wird weitergeführt, denn es harren - in der Reihenfolge der Signaturen des Katalogs von 1472 - noch weitere Codices der Tiefenerschließung, darunter viele Predigtmanuskripte und Liturgica.
Die z.T. äußerst kleinteilige Erfassung der nach der Französischen Revolution zu einem großen Teil in die Stadtbibliothek von Troyes verbrachten Predigthandschriften und Praedicabilia verdankt der technologischen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte viel. Ohne elektronischen Zugriff auf einschlägige Datenbanken wäre so manche Beschreibung sicherlich ungleich bescheidener ausgefallen (man vergleiche hier nur die Angaben von 1997 mit denen von 2021). Erfasst wurden im vorliegenden Katalog 143 Handschriften der im Katalog von 1472 verwendeten Signaturengruppen O, P und Q. Für die einzelnen Beschreibungen zeichnen neun Bearbeiter verantwortlich, deren Arbeit von Jean-Pierre Rothschild und Caroline Heid koordiniert wurde.
Der Wert eines Handschriftenkatalogs bemisst sich nicht nur an der Identifizierung neuer Texte bzw. deren zunehmender Präzisierung, sondern auch am Grad der Vollständigkeit der für jede einzelne Handschrift angeführten Forschungsliteratur und der Präzision und Zuverlässigkeit von Datierungen und Entstehungskontexten (insbesondere mit Blick auf aus unterschiedlichen Texten zusammengesetzte Sammelhandschriften). Gerade bei der Erschließung neuer Texte leistet die vorliegende Arbeit Hervorragendes. Wenig überraschend sind es die im Katalog von 1472 unter der Rubrik Libri communes proprium titulum non habentes versammelten Werke, bei denen man fündig wurde. Es handelt sich hierbei vor allem um Praedicabilia, um all jene Werke also, auf die Prediger bei ihrer Vorbereitung zurückgriffen, "à la fois innombrable et relativement négligée par la recherche contemporaine". (15) Dazu gehören auch all jene kurzen Texte, isolierte Exempla und Exzerpte vor allem, die von Nutzern auf die leeren Pergamentseiten aufgetragen wurden.
Der Forschung bisher völlig unbekannt waren im Bereich der Theologie Handschriften mit (bekannten) Werken des (Pseudo)-Bonaventura, etwa das Breviloquium (P 68 / Troyes 1927) oder De ornamentis pontificalibus et presbyteralibus (O 36 / Troyes 2012). Auch im Bereich des kanonischen Rechts und der aszetisch-mystischen Schriften findet sich Entsprechendes, so etwa ein bisher unbeachtet gebliebenes Florilegium der Pharetra des Pseudo-Bonaventura (P 2 / Troyes 1723), dessen Katalogbeschreibung ausgesprochen detailliert ausfällt (224-229). Im Bereich der Predigt sind es nicht nur zwei bisher von der Forschung unberücksichtigt gebliebene Exemplare der Ars praedicandi des Alain de Lille (O 84 / Troyes 1441; P 34 / Troyes 1360), sondern auch zwei Predigtsammlungen, die Johann Baptist Schneyer in seinem "Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters" entgangen waren (O 3 / Troyes 1892; O 35 / Troyes 1999).
Die Detailbeschreibung insbesondere der bisher nur kursorisch (oder überhaupt nicht) erschlossenen Handschriften trägt nicht nur zum besseren Verständnis der Struktur von Textsammlungen bei, sondern liefert auch wertvolle Hinweise auf mögliche Zuschreibungen und Rezeptionswege - Informationen, auf denen die Forschung zukünftig aufbauen kann. Die derzeit blühenden, auf Sentenzensammlungen fokussierten Forschungen werden von den Beschreibungen ebenso profitieren wie die institutionell in der "Medieval Sermon Studies Society" gebündelte Predigtforschung selbst. Für einige Predigtsammlungen liegen nun überhaupt zum ersten Mal Beschreibungen vor - davon ausgehende Detailuntersuchungen werden hoffentlich bald folgen. So enthält etwa O 10 eine Sammlung, deren Ursprung wohl in Clairvaux selbst zu vermuten ist, O 19 liefert eine völlig unbekannte zisterziensische Sermonessammlung, O 22 umfasst Predigten de sanctis et de festis, die keinem Geringeren als Pierre Roger alias Papst Clemens VI. (gest. 1352) zugeschrieben werden, O 64 Marienpredigten (Mariale), die zum ersten Mal Gegenstand einer ausführlichen Beschreibung sind. Noch viele weitere Beispiele ließen sich hier anführen.
Von der Bedeutung einzelner Texte für das pastorale Engagement in sermonibus zeugt deren schiere quantitative Präsenz in der Primarabtei von Clairvaux. Allein drei Exemplare des Alphabetum Narrationum fanden sich in den Bibliotheksregalen (23-25). Die beiden Summen de virtutibus (65-67, 83) und de vitiis (68-73, 82) des Guillelmus Peraldus waren von zentraler Bedeutung bei der Behandlung von Tugenden und Lastern, die Legenda aurea des Jacobus de Voragine lieferte den entsprechenden hagiographisch grundierten Stoff (Q 56-66). Petrus' Comestors Historia scolastica verteidigte ihre Stellung als einer "der" Bestseller des Mittelalters ganz offensichtlich auch in Clairvaux (Q 15, 16, 18, 19, 21, 23, 24).
Der vorliegende Band, Frucht eines (von öffentlichen Geldgebern nur noch ungern finanzierten) Langzeitunternehmens, liefert Grundlagenforschung in bestem Sinne, legt also die Basis, auf der Geschichtswissenschaften, Theologie und Kunstgeschichte nun weiter aufbauen können. Das ausgebreitete und detailliert beschriebene Handschriftenmaterial bietet nicht nur Altbekanntes in neuem explikativem Gewand, sondern wartet mit bisher unbekannten Schätzen auf, die es nun weiter zu heben gilt. Beeindruckend.
Ralf Lützelschwab