Rezension über:

Malte de Vries: Die Implementation der Reformation in Braunschweig (1528-1599) (= Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens; Bd. 53), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 601 S., 15 Abb., ISBN 978-3-8471-1353-9, EUR 80,00
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Rezension von:
Tim Lorentzen
Theologische Fakultät, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Tim Lorentzen: Rezension von: Malte de Vries: Die Implementation der Reformation in Braunschweig (1528-1599), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 7/8 [15.07.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/07/36268.html


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Malte de Vries: Die Implementation der Reformation in Braunschweig (1528-1599)

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"Die von Johann Bugenhagen geleitete Kirchenverbesserung wurde [...] dadurch vollendet, dass eine evangelische Kirchenordnung entworfen und am 5. September [1528] öffentlich und feierlich von Rath und Gemeinen angenommen wurde". [1] So wie hier für Braunschweig ließ die ältere Reformationshistoriographie gern den erfolgreichen "Abschluß der Reformation" [2] mit der Einführung der ersten Kirchenordnung in eins fallen, ganz als hätte sich die konfessionelle Umgestaltung zu einem evangelischen Gemeinwesen mit diesem Akt schon von selbst vollzogen. Doch "Ordnung stellen und gestellete Ordnung halten sind zwei Ding weit voneinander", wusste schon Luther [3], und in der jüngeren Forschung ist durchaus beherzigt worden, dass allein die Verabschiedung neuer Normen noch lange keine Auskunft über ihre tatsächliche Einhaltung erlaubt.

Gerade am Beispiel der autonomen Landstadt Braunschweig hat der Historiker, Germanist und evangelische Theologe Malte de Vries die jahrzehntelange "Implementation der Reformation" nach Bugenhagens Kirchenordnung von 1528 nun einmal gründlich untersucht und einer überaus aspektreich aufgefächerten, eindrucksvoll erzählten Darstellung zugeführt. Seine interdisziplinär von Arnd Reitemeier und Thomas Kaufmann in Göttingen betreute Dissertation vermag archivalisch aus dem Vollen zu schöpfen und die reiche Quellenüberlieferung in eine klar geordnete Reformationsgeschichte zwischen 1528 und 1599 zu überführen.

Es gibt drei Hauptteile. Einem umfangreichen Kapitel über "Änderungen auf der Ökonomie- und Verfassungsebene" (rund 250 Seiten) folgen Beobachtungen über "Personen und Ämter" und über die "reformatorischen Ideale im Diskurs" (jeweils rund 100 Seiten). Die Komposition orientiert sich mithin nicht an klassischen Regelungsbereichen reformatorischer Kirchenordnungen (etwa Schule - Gottesdienst - Finanzen usw.), nimmt ihren Ausgang auffälligerweise aber auch nicht vom Evangelium und von der Lehre, sondern umgekehrt, vom "Knochengerüst der Institutionen" (Harnack) her, schreitet anschließend zu konkreten Ämtern voran, den Personen(gruppen), ihren Herkünften und Karrieren, auch den Schicksalen der Altgläubigen, um erst ganz zuletzt eine Reihe teils heftig ausgetragener Streitigkeiten zu rekonstruieren, die den mühsamen Formierungsprozess der evangelischen Kirche Braunschweigs überschatteten und ihn bisweilen gefährdeten. De Vries begründet diese Reihenfolge so, dass der Hauptklärungsbedarf nach 1528 eben finanzielle, administrative und organisatorische Fragen betroffen und darum auch zu entsprechend stärkerer Quellenüberlieferung geführt habe. Der Nachteil eines solchen Aufbaus ist freilich, dass Theologie und Frömmigkeit als Grundlage, Motivation und Maßstab der Braunschweiger Stadtreformation auf diese Weise zuletzt schlicht keine Berücksichtigung mehr finden.

Immer wieder kann der Autor durch die Auswertung bislang unbeachteter, bisweilen mit Finderglück zutage gebrachter Quellenbestände plausibel darlegen, dass die konkrete Umsetzung der von Bugenhagen in optimistisch-vertrauensvoller Offenheit hinterlassenen Kirchenordnung die Verantwortlichen vor beträchtliche Herausforderungen stellte. Was etwa die angemessene Versorgung der Pfarrer und ihrer Familien, eine von allen akzeptierte Armenfürsorge, die sozialverträgliche Auflösung der Klöster oder auch den Aufbau von Mädchenschulen betraf, so wurden die reformatorischen Ideale bald von der Realität eingeholt. Persönlich freut mich, dass der Autor die von Frank P. Lane und mir begonnene Auswertung von Kastenrechnungen [4] fortgesetzt, meine Beobachtungen bestätigt und darüber hinaus Themen erschlossen hat, die von Bugenhagen noch keineswegs berührt worden waren: Eindrucksvoll, was de Vries etwa zum Aufbau von Kurrenden herausgefunden hat, die den lästigen Schülerbettel kanalisieren sollten (Karte der geplanten Laufwege, 553), und wie er im nahtlosen Fortbestand von Hospitälern und Beginenhäusern meine kursorischen Beobachtungen gründlich weiterführt (nicht verarbeitet ist hier offenbar das Goddeshuse Register, StA Braunschweig B I 14 Nr. 2).

Ein paar kritische Notizen habe ich doch. Erstens hat die Griffigkeit des Themas wohl ganz von selbst zu einer gewissen Theorie- und Theologiescheu geführt. Dass Bugenhagens Kirchenordnung, aber auch dem vorauslaufenden Reformationsgeschehen in der Stadt ein existentieller, von neuartiger Bibellektüre her gewonnener Umbruch im Heilsverständnis zugrunde lag, ein zutiefst religiöser Vorgang mithin, scheint mit der Konzentration auf Verwaltungsakte wie weggeblasen; und dass Braunschweig eine Generation später unter der prominenten Leitung von Martin Chemnitz zur Zentrale der lutherischen Konkordienbildung aufrückte, scheint für die Festigung der dortigen Reformation gar keine Rolle zu spielen. Ein Blick jedoch auf das Chorgestühl der Brüdernkirche mit seinen 46 als Testes Veritatis inszenierten Theologenbildnissen (1597) würde eindrucksvoll zeigen, welches Selbstbewusstsein Braunschweig zum Ende des Untersuchungszeitraums aus dem Stolz der Orthodoxie bezog. Ruth Slenczkas instruktivem Aufsatz hierüber [5] wäre, zweitens, auch eine Anregung zu entnehmen gewesen, das seit dem Spätmittelalter geradezu reichsstädtische Selbstverständnis dieser autonomen Landstadt doch stärker in die Deutung einzubeziehen, eine auffällig stolze Attitüde, die besonders plastisch an Rathausfassade und Brunnen auf dem Altstädter Markt abzulesen ist. Ausgerechnet am Braunschweiger Beispiel lässt sich eine Kritik an Moellers "Reichsstadt und Reformation" [6] also nicht besonders gut durchführen.

Drittens: Terminologisch möchte de Vries als "Reformation" weiterhin nur den "Prozess" verstehen, der "bis zur Einführung der KO [...] eine lutherische Stadtkirche etablierte", deren Durchsetzung dagegen als "Implementation" bezeichnen (12). Die vorschnelle Festlegung führt dazu, dass der "Abschluss der Reformation" (529) nun doch mit der Kirchenordnung in eins fällt, und so kennzeichnet das Buch Vorgänge zwischen 1528 und 1599 konsequent als "nachreformatorisch" (rund 50 Stellen) oder "im Anschluss an die Reformation" (5 Stellen). Noch in der Auswertung möchte der Autor aus dem überzeugenden Materialreichtum seiner Studie nicht einmal probeweise den Schluss ziehen, die Braunschweiger Reformation nunmehr als einen ausgesprochen gedehnten, zumindest aber doch irgendwie über das Stichdatum 1528 hinausreichenden Prozess verstehen zu müssen. Auf der letzten Seite fällt ihm auf, "dass mit dem Begriff 'Reformation' auch in städtischen Kontexten zumeist sehr unreflektiert gearbeitet wurde und wird. Etwaige Definitionen, was genau man zeitlich wie inhaltlich unter 'Reformation' zu verstehen hat, finden sich kaum" (534, Fn. 3139). Genau hierzu hätte seine Studie doch aufregende Ergebnisse geliefert.

"Die städtische Reformation wird meist mit Verabschiedung einer gesetzlichen Kirchenordnung als abgeschlossen angesehen", behaupten Klappentext und Verlagsankündigung. Mein Eindruck ist, dass dies heute eben "meist" nicht mehr so geschieht wie in den eingangs zitierten Texten früherer Jahrhunderte. Es ist darum keineswegs, wie der Autor glaubt, "zentrales Untersuchungsergebnis" seiner Studie, dass "die Neuerungen der Reformation 1528 nicht umgehend durchgesetzt werden konnten, sondern noch ein enormer Regelungsbedarf entstand" (518). Viel spektakulärer ist doch, wieviel Kopfzerbrechen und Organisationsgeschick, wieviel ökonomische Kreativität, wieviel soziales Ungemach, wieviel politischen Streit die Verantwortlichen zwei Generationen lang in Kauf nehmen mussten, um die Stadt zu einem funktionierenden lutherischen Gemeinwesen umzukrempeln und am Ende doch als gefeierte Metropole der Orthodoxie zu stehen zu kommen. Das hat de Vries streckenweise sensationell recherchiert, aufbereitet und erzählt, aber offenbar selbst nicht ganz internalisiert.

Sehr erfreulich ist die angenehm aufgeräumte, flüssig lesbare, fast fehlerfreie Sprache. Das Mittelniederdeutsche beherrscht de Vries offenbar mit Leichtigkeit, ein Glücksfall für einen solchen Quellenbestand! Für eine Leserschaft, der auch das moderne Plattdeutsch fremd ist, hätte sich die Mühe eigener Übersetzungen in den Fußnoten sehr gelohnt. Wertvoll sind die im Anhang mitgelieferten Listen, Tabellen, Grafiken und Bilder, auf die aber nur versteckt in den Fußnoten verwiesen wird, was die Benutzung leider sehr erschwert. Auch Register wären eine beträchtliche Hilfe gewesen, die Suchfunktion der e-Book-Variante führt nicht immer zur Lösung.

Von der Redaktion um kurze Sätze gebeten, kann ich bilanzieren: Dies ist ein gutes Buch. Zurecht ist es mit dem Preis für niedersächsische Landesgeschichte ausgezeichnet worden. Man wünscht ihm viel Erfolg. Besonders sein Autor sollte es noch einmal gründlich lesen.

Anmerkungen:

[1] Carl G. H. Lentz: Bücher der Geschichten der Lande Braunschweig und Hannover. Eine Volks- und Jugendschrift. Braunschweig 1837, 131.

[2] Wilhelm Jensen: Der Abschluß der Reformation in Schleswig-Holstein. Zur Annahme der schleswig-holsteinischen Kirchenordnung vom 9. März 1542 auf dem Landtage in Rendsburg, in: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte 70/71 (1943), 189-223.

[3] Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel [= WA.Br] 4 (1933), Nr. 1158, hier 265.

[4] Vgl. Frank P. Lane: Johannes Bugenhagen und die Armenfürsorge in der Reformationszeit, in: Braunschweigisches Jahrbuch 64 (1983), 147-156; Tim Lorentzen: Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge. Tübingen 2008.

[5] Vgl. Ruth Slenczka: Städtische Repräsentation und Bekenntnisinszenierung. Die Braunschweiger Kirchenordnung von 1528 und die reformatorische Ausstattung der Brüdernkirche, in: Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.): Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit. Mainz 2007, 229-273.

[6] Vgl. Bernd Moeller: Reichsstadt und Reformation. Neue Ausgabe (m. Beitr. v. Thomas Kaufmann). Tübingen 2011.

Tim Lorentzen