Rezension über:

Christian Marx: Wegbereiter der Globalisierung. Multinationale Unternehmen der westeuropäischen Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom (1960er-2000er Jahre) (= Nach dem Boom), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 912 S., ISBN 978-3-525-37104-6, EUR 120,00
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Rezension von:
Florian Staffel
Universität Paderborn
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Florian Staffel: Rezension von: Christian Marx: Wegbereiter der Globalisierung. Multinationale Unternehmen der westeuropäischen Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom (1960er-2000er Jahre), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 2 [15.02.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/02/38365.html


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Christian Marx: Wegbereiter der Globalisierung

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Multinationale Unternehmen sind Ausdruck und Katalysator des jüngsten Globalisierungsschubs seit den 1970er Jahren. Diesem Phänomen widmet sich Christian Marx in seiner gewichtigen Studie zur westeuropäischen Chemieindustrie, die eine gekürzte Fassung seiner Trierer Habilitationsschrift darstellt. Mit dem Ziel, eine "quellengesättigte, kollektive Unternehmensgeschichte" (36) zu verfassen, untersucht er die Auslandsaktivitäten der Unternehmen Bayer, Hoechst, Akzo und Rhône-Poulenc von den 1960ern bis in die 2000er Jahre in vergleichender Perspektive. Er wählt damit führende Chemiekonzerne Westeuropas aus, die sich wechselseitig als direkte Konkurrenten wahrnahmen und partiell auch kooperierten.

Die Studie ist klar gegliedert. Auf ein Überblickskapitel zu den politökonomischen Herausforderungen, dem Produkttableau und der Entwicklung der Unternehmen im Nachkriegsboom folgen die beiden chronologisch angeordneten Hauptkapitel, in denen jeweils die Unternehmensentwicklungen analysiert werden. Im Ersten rekonstruiert Marx die Reaktionen der Unternehmen auf eben jene Krisen der langen 1970er Jahre. Auf die Konjunkturschwäche, die steigenden Rohstoffpreise im Zuge der Ölpreiskrisen und die nachteiligen Währungsrelationen durch das Ende von Bretton Woods hätten die Unternehmen mit einer Forcierung des Auslandsgeschäfts reagiert. Der Grundstein hierzu sei durch erste Produktionsstätten und eine Ausdehnung des Exports bereits in den 1950er und 1960er Jahren gelegt worden. Marx stellt heraus, dass die vier untersuchten Unternehmen sich dabei bis in die Mitte der 1970er Jahre auf Westeuropa konzentriert hätten - insbesondere aufgrund der Ähnlichkeiten zum jeweiligen Heimatmarkt. Erst dann sei verstärkt der US-Markt in das Blickfeld gerückt. Im Unterschied zu Bayer und Hoechst habe der Fokus bei Rhône-Poulenc vermehrt auf den ehemaligen französischen Kolonialgebieten gelegen. Diese nationale Sonderentwicklung spiegelt sich auch in der Verstaatlichung durch die französische Regierung zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit im Jahr 1982 wider.

Der staatliche Interventionismus prägte die Entwicklung Rhône-Poulencs ebenfalls in der zweiten Phase des Untersuchungszeitraums. Nach der zweiten Ölpreiskrise habe die Chemiebranche in Europa aufgrund verbesserter Nachfragebedingungen einen erneuten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, wie Christian Marx herausarbeitet. Die Unternehmen hätten daraufhin ihr Auslandsgeschäft in den USA und im Übergang zu den 1990er Jahren auch in Asien ausgebaut. Dies sei zum einen durch die Gründung von Joint Ventures erfolgt, um Marktrestriktionen zu umgehen. Zum anderen habe der Zu- aber auch Verkauf von Unternehmensanteilen massiv zugenommen - für Marx ein zentrales Merkmal dieses Zeitraums. Er führt mehrere ineinandergreifende Faktoren an, die diese Entwicklung hervorgebracht und begünstigt hätten. So hätten sich die Unternehmen vermehrt auf ihre Kernkompetenzen konzentriert, die vor allem in den krisenresistenteren Bereichen Agrochemie und Pharmazeutik und beispielsweise weniger im Chemiefaserbereich gesehen worden seien. Gleichzeitig sei in den Unternehmen tendenziell eine Umstrukturierung nach amerikanischem Vorbild zu einer multidivisionalen Unternehmensorganisation erfolgt, die wiederum eine vereinfachte Abspaltung von unrentablen Unternehmensbereichen ermöglicht habe. Dies habe zugleich der vermehrten Finanzierung der Unternehmen über den sich ausdehnenden Kapitalmarkt statt der Hausbanken Rechnung getragen, da die Bewertung der Unternehmen erleichtert worden sei.

Das Buch von Christian Marx besticht durch eine dichte empirische Rekonstruktion und Analyse der Auslandsaktivitäten sowie der dahinterstehenden Motive der jeweiligen Unternehmen. Eindrücklich legt er dar, wie die Unternehmen auf die politökonomischen Herausforderungen und den zunehmenden Wettbewerb mit einer Forcierung der Auslandsproduktion reagierten. Er präsentiert eine Vielzahl interessanter Einzelbefunde zu den jeweiligen Unternehmensgeschichten, die in ihrer Breite hier nicht genug gewürdigt werden können. Zu nennen wären beispielhaft die Aushandlungen und Integrationsversuche von Akquisitionen in einen multinationalen Unternehmensverbund, die am Beispiel von Akzo und dessen Entwicklung zu einem der "Euro-Konzerne" (790) besonders hervortreten. Durch die Öffnung der "black box des multinationalen Unternehmens" (55) leistet er damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Globalisierung in der jüngsten Zeitgeschichte, wie sie beispielsweise Lutz Raphael und Andreas Wirsching gefordert haben. [1] Den wiederum selbst formulierten zweiten Anspruch, die "Bedeutung multinationaler Unternehmen für die Um- und Aufbrüche in der Zeit nach dem Boom" (35) zu erkunden und damit die Unternehmensgeschichten in die westeuropäische Zeitgeschichte zu integrieren (57, 78), löst er jedoch nicht vollends ein. Die hierzu erwartete quellengestützte Analyse der Wechselwirkungen zwischen den multinationalen Unternehmen und ihren Stakeholdern bleibt vielfach aus. Trotz der prominenten Thematisierung der Europäischen Integrationsprozesse oder der Veräußerungen einzelner Unternehmensanteile und entsprechender Strukturmaßnahmen wurden beispielsweise die Archive der Europäischen Union oder der Gewerkschaften nur sporadisch oder gar nicht konsultiert. Die Berücksichtigung hätte voraussichtlich weitere Erkenntnisse zu den gesamtgesellschaftlichen Wirkungsprozessen der multinationalen Unternehmen bereitgehalten. Dennoch hat Christian Marx eine im hohen Maße anregende Studie für Unternehmens- und Zeithistoriker:innen vorgelegt, die sich eingehender mit dem jüngsten Globalisierungsschub insbesondere am Beispiel der Chemieindustrie beschäftigen möchten.


Anmerkung:

[1] Lutz Raphael: Die Geschichte der Bundesrepublik schreiben als Globalisierungsgeschichte. Oder die Suche nach deutschen Plätzen in einer zusammenrückenden Welt, in: Frank Bajohr et al. (Hgg.): Mehr als "eine" Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Göttingen 2016, 203-220; Andreas Wirsching: "Kaiser ohne Kleider"? Der Nationalstaat und die Globalisierung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 68 (2020), H. 4, 659-685.

Florian Staffel