Johannes Burkhardt (Hg.): Krieg und Frieden in der historischen Gedächtniskultur. Studien zur friedenspolitischen Bedeutung historischer Argumente und Jubiläen von der Antike bis in die Gegenwart (= Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg. Historisch-Sozialwissenschaftliche Reihe; Nr. 62), München: Ernst Vögel 2000, 140 S., ISBN 978-3-89650-095-3, DM 28,00
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Der vorliegende Sammelband ist aus einer Sektion des Historikertages 1996 in München hervorgegangen. Ziel ist es, die Wirkungen historischer Argumente und Analogien auf die Entscheidung für Krieg oder Frieden in einigen Fallstudien ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu untersuchen. Der einleitende Beitrag über das klassische Griechenland (Gunther Gottlieb: Geschichte als Argument für Krieg und Frieden im alten Griechenland, 17-30), dient nicht allein der Ausweitung der Perspektive bis in die Antike, sondern führt tatsächlich an die Wurzeln der europäischen Geschichte. Leider klafft zum chronologisch folgenden Beitrag von Pamela Kalning (Funktionalisierung von Geschichtsschreibung in Kriegslehren des späten Mittelalters, 31-43) eine so große Lücke, dass ein Verfolgen der Kontinuitäten nicht möglich ist. In beiden Epochen findet sich indes eine Vermischung von historischen und mythischen, allenfalls alttestamentarischen Belegen für politisch-militärische Argumentationen.
Christoph Kampmann ("Arbiter of Christendom" und europäisches Gleichgewicht. Zu Geschichtsdenken und Politik im England des 17. Jahrhunderts, 45-69) zeigt am englischen Beispiel, wie sehr auch die Publizisten des späten 17. Jahrhunderts auf Mythen und Verfälschungen zurückgriffen, um Tagespolitik zu treiben. Doch auch jenseits aller Propaganda zeigten Mitglieder der englischen Regierung auch im internen vertraulichen Umgang derartige Denkmuster (58 f.), ein deutliches Zeichen dafür, dass wir es nicht nur mit einem Problem der Beeinflussung der Öffentlichkeit zu tun haben, sondern auch mit einem der Denkweise von handelnden Persönlichkeiten, die tatsächlich an die Geschichte verzerrenden Argumente glaubten, so weit diese auch hergeholt waren.
Auch im 19. Jahrhundert machte man mit historischen Schlagworten Politik, und wiederum erreicht das enthistorisierte historische Argument auch in den Köpfen der Politiker den Status einer geschichtlichen Wahrheit (Reimer Hansen, Das Privileg von 1460 im deutsch-dänischen Nationalkonflikt des 19. Jahrhunderts, 71-89). Johannes Burkhardt (Die kriegstreibende Rolle historischer Jubiläen im Dreißigjährigen Krieg und im Ersten Weltkrieg, 91-102) untersucht die historischen Jubiläen, die sowohl im Dreißigjährigen Krieg (1617 Reformationsjubiläum, 1630 Jubiläum Confessio Augustana) als auch im Ersten Weltkrieg (1913 Völkerschlacht-Jubiläum, 150 Jahre Siebenjähriger Krieg und so weiter) radikalisierend und kriegsfördernd gewirkt haben, und er macht dabei die gleiche Beobachtung wie Hansen: Der methodische Fortschritt des Historismus hat keinen Niederschlag in den Köpfen von Politikern und Publizisten gefunden, die sich kritiklos im Angebot der Geschichte für ihre Argumentationen bedienen.
Ein zweiter kleinerer Teil widmet sich der friedensfördernden Wirkung historischer Analogien und Argumente. Die Friedensfeste, die nach 1648 gefeiert wurden (Etienne François und Claire Gantet, Vergangenheitsbewältigung im Dienst des Friedens und der konfessionellen Identität. Die Friedensfeste in Süddeutschland nach 1648, 103-123), dienten der Bewältigung der Kriegserfahrung und der Selbstvergewisserung der Konfessionen, wie am Augsburger Beispiel nachgewiesen wird. Den Streit zwischen den Religionsparteien trug man indes in einer ritualisierten Form aus, die eine Eskalation vermied (112), so dass die jedes Jahr wiederkehrenden Friedensfeste nicht in der gleichen Weise kriegsfördernd wirkten wie etwa das Reformationsjubiläum.
Wolfram Siemann schließlich nimmt das Medienecho in den Blick, das die 1848er Revolution im Jahr 1948 fand (Auf der Suche nach einer Friedensordnung: Das Jubiläum der Revolution von 1848 im Nachkriegsdeutschland, 125-136). Ganz verschiedene gesellschaftliche Gruppen suchten damals in der Erinnerung Halt und Neuorientierung. Es hätte sich allerdings angeboten, auch die 300jährige Wiederkehr des Westfälischen Friedens mit zu berücksichtigen.
Insgesamt ein gelungener Band, der natürlich aufgrund seines geringen Umfanges nicht alle Aspekte des Themas abschließend behandeln kann, es aber auch gar nicht will. Er macht deutlich, dass historische Argumente immer wieder und in ganz verschiedenen Zusammenhängen im Verlaufe der europäischen Geschichte genutzt wurden, wobei die Wirkungen wiederum ganz unterschiedlich waren. Als Gemeinsamkeit aller Epochen wird jedoch deutlich, wie sehr die Vergangenheit als Teil der Gegenwart gedeutet wurde, wenn es galt, aktuelle Probleme mit historischen Argumenten zu lösen. Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert, die die Eigenart und Einzigartigkeit jeder Epoche betont, haben im öffentlichen Diskurs offenbar eine geringe Wirkung gehabt. Das statische vormoderne Geschichtsbild wurde also nicht vollständig oder breitenwirksam durch ein dynamisches abgelöst (15).
Geschichte als Argument zu verwenden, das bedeutet immer auch, eine selektive Sicht auf die Vergangenheit zu haben. Nur wenn die Geschehnisse herausgegriffen werden, die eine aktuelle Absicht stützen, die übrigen aber vergessen oder verdrängt werden, kann Geschichte effektiv als Argument dienen ("Geschichte ist disponibel", 43). Denn in den Jahrhunderten europäischer Geschichte lassen sich für jede beliebige Ansicht Beispiele finden, wenn man diese Beispiele nur konsequent aus ihrem Kontext herauslöst. Der Unterschied zwischen tatsächlichen historischen Ereignissen und Mythen verschwimmt im öffentlichen Bewusstsein heute genauso wie im klassischen Griechenland (22). Um so wichtiger ist allerdings, dass die Geschichtswissenschaft der schrankenlosen Verwendung historischer Argumente durch eine Darbietung der Vergangenheit in ihrem jeweiligen Zusammenhang Einhalt gebietet. Sie sollte daher auch der Versuchung widerstehen, in das politische Tagesgeschäft mit wohlmeinenden historischen Analogien einzugreifen, selbst wenn das jeweilige Anliegen positiv zu bewerten ist. Denn auf die Gefahren einer laienhaften punktuellen Geschichtsbetrachtung hat der vorliegende Band eindrucksvoll hingewiesen.
Eine Militärgeschichte, die sich als Teil historischer Friedensforschung versteht und explizit zu aktuellen militärpolitischen Fragen Stellung beziehen will, stellt sich jedenfalls methodisch selbst ein Bein und fällt auf den historiographischen Stand der Generalstabsgeschichte des 19. Jahrhunderts zurück, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Gemeinsam ist beiden jedoch der Versuch, durch Ausblendung missliebiger historischer Phänomene und durch eine Ex-Nunc-Sicht auf die Vergangenheit gegenwartsbezogene Ziele zu verfolgen. Dies mag im Fall der Friedensforschung gesellschaftspolitisch positiv zu bewertende Folgen haben, trägt aber nicht zu einem Fortschritt der Geschichtswissenschaft bei (vergleiche 89).
Diese Tendenz besteht in der Militärgeschichte in besonderem Maße, doch handelt es sich um ein Problem aller Zweige der Geschichtswissenschaft. Insofern sei der vorliegende preiswerte Band allen zur Lektüre empfohlen, die sich fragen, ob denn unsere Wissenschaft in irgendeiner Form praktisch auswert- oder anwendbar ist. Sie ist es nicht unmittelbar, wenn sie Wissenschaft bleiben will. Das zeigen die Beiträge in aller Deutlichkeit.
Max Plassmann