Helmut Börsch-Supan: Künstlerwanderungen nach Berlin. Vor Schinkel und danach, München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2001, 359 S., m. 43 Abb., ISBN 978-3-422-06328-0, DM 68,00
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"Hauptstädte ziehen Künstler an." - "Im Ganzen wird festzustellen sein, dass die Stadt kein fruchtbarer Boden für künstlerische Kräfte war." - "Ein genius loci ist keine Fiktion." - Diese drei Zitate fassen kurz die Kernthesen von Helmut Börsch-Supans Buch über die Berliner Kunstgeschichte als eine Geschichte der Künstlerwanderungen zusammen. Sie entstammen den einleitenden Kapiteln mit den Überschriften "Schinkel in der Mitte" und "Kunstblüte auf sandigem Boden", die auf knapp 30 von insgesamt 350 Seiten das Programm des Werkes formulieren.
Der anschließende Hauptteil bietet eine Art knappes Verzeichnis der seit dem Mittelalter zugewanderten Künstler, das jedoch nicht chronologisch oder alphabetisch, sondern geographisch nach der Herkunft der Neu-Berliner geordnet ist: Börsch-Supan umrundet somit einmal die preußische Hauptstadt, beginnend im Westen mit Magdeburg, und beschließt seinen Überblick mit dem Norweger Munch, der selber nicht in Berlin lebte, aber durch Ausstellungen seiner Werke um 1900 wichtige Anregungen für die dortige Kunstszene bot: Der Begriff "Künstlerwanderungen" ist somit weit gefasst.
Jede der sieben Haupt-Himmelsrichtungen ist in weitere Unterkapitel aufgegliedert. Die aus der jeweiligen Region stammenden Künstler werden darin meist chronologisch mit einer kurzen Biographie, ihren wichtigsten Werken und einer knappen, gelegentlich auch zur Pauschalisierung neigenden Charakterisierung vorgestellt. So erfährt man quasi als Randbemerkung zum "harmlosen" Zille-Denkmal des aus Westfalen stammenden Bildhauers Heinrich Drake (1965) über die Kunst im SED-Staat: "Das dem Volk zugekehrte biedere Gesicht und das dem Klassenfeind zugewandte grimmige waren die beiden einzigen Seiten [sic!] der offiziellen DDR-Kunst." (71)
Durch die bunte Abfolge zahlloser berühmter und weniger bedeutender Meister erlebt der Leser eine umfassende, aber gelegentlich auch (wie der Autor selbst eingesteht) "überfordernde" (335) tour d' horizon der Berliner Kunstgeschichte; ein Namensindex ermöglicht jedoch auch eine gezielte Suche. Auf jeden wissenschaftlichen Apparat, Quellennachweise oder weiterführende Literaturangaben wird, abgesehen von einer vierseitigen Auswahlbibliographie, verzichtet. Das geographische Gliederungsprinzip des Bandes, der als essayistische Mischung aus Lesebuch und Überblickswerk konzipiert ist, soll nachdrücklich vor Augen führen, wieviel die oft zum Hochmut tendierende "Hauptstadtkultur" der sogenannten "Provinz" verdankt.
Aufbauend auf der alten Erkenntnis, dass der echte Ur-Berliner in Breslau geboren ist, stellt der Autor fest, dass die bedeutenden künstlerischen Impulse in der preußischen Hauptstadt von Zugewanderten, nicht aber von Einheimischen gegeben wurden. Hierdurch sei der kontinuitätslose, unstete Charakter der Metropole als einer "Kolonialstadt" entscheidend geprägt worden. Nur für eine kurze Zeitspanne zwischen der Rückkehr des Bildhauers Johann Gottfried Schadow aus Rom (1787) und dem Tod Karl Friedrich Schinkels (1841) habe sich dort eine "bodenständige", autochthone Kultur entwickelt (9f.). Dementsprechend gliedert sich die preußische Kunstentwicklung für Börsch-Supan in eine Phase vor und nach diesem "Gipfel", von dem aus betrachtet weiteste Teile der Berliner Baugeschichte als Niederungen, als "noch nicht" oder "nicht mehr" gelten müssen. Entsprechend ungnädig urteilt der Autor über das zu Ende gegangene 20. Jh. und mahnt gerade im Hinblick auf die sich selbst zur Weltmetropole hochjubelnde alte neue Hauptstadt: "Etwas von altpreußischer Schlichtheit würde der Stadt gut anstehen."
Die über eine reine Faktensammlung hinausgehende programmatische Intention des Buches, seine These, erschließt sich am besten aus den Einleitungskapiteln. Der Autor, Honorarprofessor an der FU Berlin und bis 1995 bei der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Berlins tätig, ist einer der ausgewiesenen Kenner der dortigen Kunstgeschichte. Dies erklärt die immense Informationsfülle und Detailkenntnis des Textes. Börsch-Supan belässt es jedoch nicht bei einem Künstlerkatalog, sondern streut immer wieder durchaus individuell gefärbte Urteile und Bewertungen ein, die auch stets um die Frage der politischen Verflechtungen, der Indienstnahme und des Missbrauchs von Kunst durch die Herrschenden kreisen, wobei die Auseinandersetzung mit den von Berlin ausgehenden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts breiten Raum einnimmt. Genauso scharf geht der Text aber auch mit den Auswüchsen des kapitalistisch-bundesrepublikanischen oder wilhelminischen Berlin ins Gericht: Es ist insgesamt ein kritischer Blick, der auf die Stadt an der Spree geworfen wird.
Dies alles dient als Kontrastfolie gegen die verklärte Epoche des Schinkelschen "Spreeathen", welche der Autor als "Vorbild und Fluchtpunkt" für die zukünftige Berliner Stadtentwicklung verstehen will (34). Der preußische Klassizismus habe demnach nicht nur als Vermächtnis, sondern auch als der genuine, meist weit unterbotene Maßstab für eine humane Erneuerung der Metropole zu gelten. Welche Position der Autor mit diesem traditionalistischen Statement in der Debatte um das von der Bauordnung zwingend vorgeschriebene "Steinerne Berlin" mit einheitlichen 22 Metern Traufhöhe einnimmt, bleibt unklar. Soll man Kleihues' nachempfundenes Palais Liebermann am Pariser Platz als Einlösung jener Forderung (ebd.) nach einem Ort verstehen, "der den Einwohnern als ihr Lebensboden lieb wird und für den sie Verantwortung übernehmen wollen"?
So berechtigt die mahnende Kritik eines ausgewiesenen Kenners in Zeiten der kapitalistischen Hauptstadt-Umbaueuphorie sein mag, so sind doch auch einige Fragezeichen an dem in diesem Buch entwickelten Bild der Berliner Kunstgeschichte angebracht: Schon der Einleitungssatz - "Hauptstädte ziehen Künstler an" - verweist zurecht darauf, dass "Künstlerwanderungen" kein Berliner Phänomen sind, sondern ein typisches Kennzeichen aller Metropolen, die nur selten von ihren "Eingeborenen" ästhetisch geformt werden: Das gilt für das Rom der Hochrenaissance mit Raffael, Michelangelo und Bramante ebenso wie für Wien in der Ringstraßenzeit (Hansen, Semper, Schmidt etc.) oder das barocke Dresden eines Pöppelmann, Dinglinger, Chiaveri oder Permoser. Was ist also das typisch Berlinische an diesem Phänomen? Der Autor erkennt es, sicher zurecht, in einer Kontinuität der Brüche, in der geradezu programmatischen Traditionslosigkeit, welche anscheinend den ureigensten genius loci Berlins ausmacht. Ob man diesen charakteristischen Wesenszug heftig beklagen muss, oder ob er nicht gerade die Faszination dieser sich stets radikal neu erfindenden Stadt ausmacht, sei dahingestellt.
Interessant ist die Feststellung, dass sich in einem solchen Milieu die Architekturkopie und das kulissenhafte Falsifikat seit den Zeiten Friedrichs II. einer großen und ungebrochenen Beliebtheit erfreut - man denke nur an die "pseudo-römischen" Palastfassaden der Potsdamer Bürgerhäuser oder die "Kommode", die ab 1774 errichtete königliche Bibliothek nach dem damals noch nicht realisierten Entwurf Joseph Emanuel Fischers von Erlach für die Wiener Hofburg (25, 107).
Abschließend sei die Frage gestellt, wodurch die in eine Metropole zuwandernden Künstler eigentlich geprägt werden: Durch den genius loci ihres neuen Tätigkeitsfeldes oder vielmehr das Erbe ihrer Heimatregion, wie dieses Buch suggeriert? Börsch-Supan bemüht sich, gewisse Kontinuitäten über Generationen hinweg bis in die Herkunftsländer der Künstler zurückzuverfolgen. So zieht er eine Linie zwischen dem Streben des Walter Gropius, Sohn einer seit drei Generationen in Berlin beheimateten, aus Braunschweig stammenden Ingenieursfamilie, "Kunst und Technik zu versöhnen", mit den Interessen des Braunschweigischen Herzogs Julius für den Festungsbau in Spandau 1582 (59). Ähnlich bedenklich erscheint die These, dass sich in den wuchtigen Barockschränken Danzigs und in der Architektur des Danzigers Schlüter derselbe Charakter einer "kühnen und zugleich gefühlsgesättigten Kunst" manifestiere (279).
Der Hauptnutzen des Buches dürfte somit, neben vielen anregenden Beobachtungen und kritischen Thesen des Autors, vor allem in einer kurzgefassten Berliner Kunstgeschichte als handliche Sammlung von Künstlerbibliographien liegen. Allerdings wird der wissenschaftlich interessierte Leser für genauere Informationen stets auf die von Börsch-Supan nicht im einzelnen angegebenen Quellen zurückgreifen müssen.
Meinrad von Engelberg