Włodzimierz Borodziej / Claudia Kraft: "Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden...". Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945 - 1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Bd. 1: Zentrale Behörden. Wojewodschaft Allenstein (= Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas; Bd. 4/1), Marburg: Herder-Institut 2000, VIII + 728 S., ISBN 978-3-87969-283-5, EUR 71,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Jan M. Piskorski: Vertreibung und deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift. Aus dem Polnischen von Andreas Warnecke, Osnabrück: fibre Verlag 2005
Paweł Machcewicz (Hg.): Polska 1986-1989. Koniec systemu. Materiały międzynarodowej konferencji. Miedzeszyn, 21-23 października 1999. [Polen 1986-1989. Ende eines Systems. Materialien einer internationalen Konferenz. Miedzeszyn, 21.-23. Oktober 1999.] Bd. 1: Referaty. [Referate.], Warszawa: Wydawnictwo TRIO 2002
Włodzimierz Borodziej / Maciej Górny: Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2018
Włodzimierz Borodziej / Heinz Duchhardt / Małgorzata Morawiec / Ignác Romsics (Hgg.): Option Europa. Deutsche, polnische und ungarische Europapläne des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
Jochen Böhler / Włodzimierz Borodziej / Joachim von Puttkamer (Hgg.): Dimensionen der Gewalt. Ostmitteleuropa zwischen Weltkrieg und Bürgerkrieg 1918-1921, Berlin: Metropol 2020
Die 1997 gegründete, zu gleichen Teilen mit polnischen und deutschen Historikerinnen und Historikern besetzte achtköpfige Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Deutschen in Nachkriegspolen hat den ersten einer auf vier Bände angelegten Quellenedition vorgelegt, die parallel auf polnisch und in deutscher Übersetzung erscheint.
Die Veröffentlichung polnischer amtlicher Dokumente zu dieser Thematik hat besonders für das deutschsprachige Publikum unvermeidlich den Charakter einer komplementären Publikation zu der bekannten "Dokumentation der Vertreibung aus Ost-Mitteleuropa", die in den 1950er-Jahren unter der Ägide des Bundesvertriebenenministeriums erstellt wurde. Dennoch weisen die Herausgeber ausdrücklich darauf hin, dass sich die Arbeitsgruppe nicht zur Aufgabe gemacht hat, die Frage nach der historischen Brauchbarkeit der in der "Dokumentation" versammelten deutschen Augenzeugenberichte erneut zu stellen oder ihre Tatsachenbehauptungen zu überprüfen.
In geografischer Hinsicht ist die Edition nicht in Bezug auf historisch gewachsene Regionen strukturiert, sondern orientiert sich an der 1945-1950 gültigen polnischen Verwaltungseinteilung und der sich daraus ergebenden Ordnung der Aktenbestände, aber auch der faktisch in den verschiedenen Verwaltungsbezirken festzustellenden Unterschiede der Nationalitätenpolitik. Einen Bruch mit der polnischen historiografischen Tradition bedeutet, dass die Dokumentensammlung sich nicht nur auf die bereits in Nachkriegspolen als Deutsche betrachteten Reichsangehörigen erstreckt, sondern auch auf die dem Rehabilitationsverfahren unterworfenen "Volksdeutschen" und die in die "nationale Verifizierung" einbezogenen "Autochthonen", da beide Gruppen vielfach ähnlichen Bedingungen ausgesetzt waren wie die "Deutschen mit deutscher Staatsangehörigkeit".
Die Bearbeiter haben praktisch alle für ihre Thematik relevanten Aktenbestände in regionalen und zentralen Archiven in Polen gesichtet, mit Ausnahme der bischöflichen Archive, zu denen die Öffentlichkeit unverändert keinen Zugang erhält. Die Auswahl von insgesamt 345 Dokumenten in diesem ersten Band umfasst Gesetze und Verordnungen der zentralen Regierungsinstitutionen ebenso wie Protokolle des Ministerrats, amtliche Berichte und solche militärischer Dienststellen, ministerielle Anordnungen, Erlasse und Denkschriften, zeitgenössische Zeitungsartikel und verschiedene statistische Materialien. Die Herausgeber verschweigen nicht, dass gerade auf dem schwierigen Gebiet der Statistik von Bevölkerungszahlen, Transporten, Verifizierungsergebnissen, Lagerinsassen, Sterblichkeitsraten und so weiter auch die Bemühungen der deutsch-polnischen Arbeitsgruppe nicht zu endgültigen Ergebnissen geführt haben. Das gleiche gilt für das Lagerwesen und den Repressionsapparat, über die etliche Dokumente aus dem Bestand des damaligen Ministeriums für Öffentliche Sicherheit interessante Aufschlüsse gewähren. Thematisch versuchen die Dokumente, in einer repräsentativen Auswahl einen gründlichen Einblick in die Lebensbedingungen der Deutschen und polnischstämmigen Reichsangehörigen, die Aussiedlung, den Zwangsarbeitseinsatz und das Verifizierungsverfahren zu geben.
In dem von Włodzimierz Borodziej bearbeiteten Teil zu den Zentralbehörden (Dokumente Nummer 1-232) sind 33 früher veröffentlichte Dokumente lediglich als Regest aufgeführt. Von diesen sind 21 zuvor nicht in deutscher Sprache veröffentlicht und auch nicht in die deutschsprachige Ausgabe aufgenommen worden, was den Gebrauchswert der Edition für den des Polnischen unkundigen Leser etwas einschränkt. Insgesamt ist die Edition jedoch durch ein Dokumentenverzeichnis, ein kommentiertes Personenregister und ein gleichzeitig als Konkordanz funktionierendes Ortsnamenverzeichnis gut erschließbar. Der deutschsprachigen Ausgabe sind zudem ein Thesaurus polnischer administrativer Termini und ihrer in der Edition benutzten Übersetzungen, ein umfangreiches Sachregister und eine Landkarte beigegeben.
Besonders für den deutschen Leser dürften viele der hier überhaupt erstmals oder erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Quellen ganz neue Einblicke in die Verhältnisse in den ehemaligen reichsdeutschen Ostgebieten nach dem Krieg aus der Perspektive der damaligen polnischen Funktionsträger eröffnen. In ihren einleitenden Texten ordnen die Herausgeber das Thema in die Entwicklung der europäischen Minderheitenpolitik seit dem Ersten Weltkrieg und besonders die nationalsozialistische Besatzungspolitik während des Zweiten Weltkriegs ein. Der von Claudia Kraft geschriebene Einleitungstext zu Ostpreußen bietet einen guten Überblick über die verwickelte Vorgeschichte der dortigen Nationalitätenverhältnisse und gibt viele Hinweise auf die besonders von der polnischen Forschung in den 1990er-Jahren geleisteten Vorarbeiten. Sie gelangt zu dem Schluss, dass weniger die ökonomische Schwäche Polens nach dem Krieg als vielmehr gravierende Fehler der polnischen Nationalitätenpolitik in der Region die einheimischen Masuren und Ermländer auf Dauer davon abbrachte, sich mit der polnischen Nation zu identifizieren.
Für alle an der deutsch-polnischen Zeitgeschichte Interessierten wird in Zukunft kein Weg an dieser Dokumentation vorbeiführen.
Andreas R. Hofmann