Jan M. Piskorski: Vertreibung und deutsch-polnische Geschichte. Eine Streitschrift. Aus dem Polnischen von Andreas Warnecke (= Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V.; Bd. 8), Osnabrück: fibre Verlag 2005, 180 S., ISBN 978-3-929759-96-9, EUR 14,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Mit dieser jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Veröffentlichung griff der Stettiner Historiker Jan Maria Piskorski 2004 in die Debatte um das "Zentrum gegen Vertreibungen" ein. [1] In einem Einleitungskapitel gibt Piskorski einen knappen Überblick über die Zusammenhänge von Raum- und Siedlungsplanung, Völkermord und Zwangsmigrationen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dieser Kontextualisierung der Aussiedlung der Deutschen aus Ostmitteleuropa bewegt sich der Verfasser im historiografischen Mainstream. Weniger selbstverständlich ist bei deutschen Historikern hingegen seine Engführung von nationalsozialistischem "Generalplan Ost" und sowjetischer Deportationspolitik, seine moralisch-politische Gleichsetzung von Hitler und Stalin als den "zwei Reitern der Apokalypse" und Hauptakteuren der Zwangsmigrationen der Mitte des 20. Jahrhunderts. In seiner historischen wie völkerrechtlichen Einschätzung der Aussiedlung der Deutschen aus den vormals reichsdeutschen Ostgebieten stellt sich Piskorski in die Kontinuität der polnischen Argumentation. Er verweist auf den bei den Alliierten damals herrschenden Konsens, durch die Beseitigung der ostmitteleuropäischen Mischsiedlungsgebiete künftigen nationalen Konflikten vorzubeugen. Allen zeitgenössischen Akteuren, so auch der polnischen Regierung, sei es um einen "reinen Tisch" gegangen. Dagegen habe das Motiv von Rache und Vergeltung für die nationalsozialistischen Verbrechen "nur auf der Exekutivebene" eine Rolle gespielt (25).
Der Hauptteil des Buches ist der aktuellen Debatte um das vom Bund der Vertriebenen unter Federführung seiner Vorsitzenden Erika Steinbach lancierte Zentrum gewidmet, gegen das Piskorski entschieden Stellung bezieht. Den Bund der Vertriebenen sieht er einen "Kampf ums eigene Überleben" führen (40). Einer nachgeborenen Generation von Verbandsfunktionären gestatte lediglich die weite Definition des deutschen Gesetzestextes, den Status von "Vertriebenen" für sich in Anspruch zu nehmen. Ein in Berlin angesiedeltes Zentrum sei der Versuch, die spezifische Sichtweise der Vertriebenenverbände im allgemeinen Bewusstsein durchzusetzen und den deutschen Vertriebenen eine Sonderrolle unter allen Opfern von Gewalttaten der jüngeren Geschichte einzuräumen. Dazu gebe es, so der Verfasser, keinen historiografisch zwingenden Grund. Er verweist darauf, dass Zwangsmigrationen in allen Epochen vorkamen und keineswegs eine direkte Konsequenz des Nationalismus waren (65 f.), wie beispielsweise unlängst noch von Peter Glotz behauptet. [2] Hier ließe sich jedoch gegen Piskorski fragen, ob nicht der seit dem 19. Jahrhundert entwickelte Nationalismus neben neuen quantitativen Dimensionen auch eine neue Qualität in die gewaltsam ausgelösten Migrationen gebracht hat. Diese Frage wäre der weiteren Debatte wert. Demgegenüber ist Piskorskis Diskussion der deutschen und polnischen Begrifflichkeiten zum Wortfeld "Zwangsmigration" (53-64) deswegen wenig fruchtbar, weil sie nur einmal mehr die Unmöglichkeit nachweist, für ein Wort der einen Sprache ein semantisch und konnotativ exaktes Äquivalent in der anderen zu finden. Wenn das polnische "wysiedlenie", so Piskorski, bereits einen Zwangscharakter zum Ausdruck bringt, wird diese Bedeutung vom deutschen Wort "Aussiedlung" eben nicht unbedingt transportiert. Sinnvoller als die stets scheiternde Suche nach einer international einheitlichen oder gar verbindlichen Terminologie wäre die Forderung nach einer im jeweiligen wissenschaftlichen Text immanent konsequenten und konsistenten Begriffsverwendung, die die Euphemismen der Quellensprache meidet und keine Unterschiede zwischen den betroffenen Nationalitäten macht, welche Piskorski dem in Deutschland verbreiteten Sprachgebrauch zu Recht vorwirft.
Interessant ist sein Abriss der deutschen diskursiven Kontexte, innerhalb deren die Debatte um das geplante Zentrum stattfindet. Von der Gründungszeit des BdV bis zu den jüngsten, geschichtsrevisionistischen Initiativen der "Preußischen Treuhand" sieht er eine Kontinuität der geschichtspolitischen Verdunkelungsversuche, denen die in Deutschland gegenüber Polen vorherrschende Gleichgültigkeit und Ignoranz Vorschub leisten. Seit den 1990er-Jahren sind Anstrengungen hinzu getreten (oder vielmehr wieder aufgenommen worden), die Deutschen verstärkt als Opfer des Zweiten Weltkriegs in das Bewusstsein zu rücken und dadurch ihre Täterrolle zu relativieren. Gerechterweise weist Piskorski darauf hin, dass rechtsradikale und nationalistische Positionen in Deutschland der Öffentlichkeit in Polen von den Massenmedien übertrieben und einseitig als repräsentativ für die gesamte deutsche Gesellschaft präsentiert wurden. Umgekehrt stellt der Autor fest, dass gerade bei den deutschen Vertriebenen die besten Kenntnisse der deutsch-polnischen Geschichte und das größte Verständnis für polnische Positionen anzutreffen seien.
Über weite Strecken wirkt der Argumentationsgang des Buches erratisch, sprunghaft und assoziativ. Auch die inkonsequente Handhabung von Belegstellen - teils Pauschalnennungen im Text, teils Endnoten - sowie das nicht alle erwähnten Autoren auflistende Literaturverzeichnis machen den Eindruck eines rasch hingeworfenen Skripts, dem man vor der Drucklegung keine besondere redaktionelle Sorgfalt hat angedeihen lassen. Gelegentlich sind historisch-nationale Stereotypen anzutreffen: So werden z. B. die polnischen "Donquichotterien" mit der angeblichen tschechischen "Schwejkhaftigkeit, ein Kennzeichen dieses kleinen, aber harten Volkes" (23), kontrastiert. Dies sind möglicherweise nicht anders von einer "Streitschrift" zu erwartende Eigentümlichkeiten, die sicher nach anderen Maßstäben zu beurteilen ist als eine im strengen Sinne wissenschaftliche Monografie. Wer nun eine politische Polemik erwartet, wird dennoch enttäuscht. Denn Piskorski ist stets - manchmal vielleicht zu sehr - um Ausgewogenheit bemüht und erteilt extremistischen Positionen auf beiden Seiten der Oder eine Abfuhr. Die strittigen Punkte des Textes offenbaren sich manchmal erst auf den zweiten Blick und setzen einige Kenntnisse der deutschen und polnischen Diskurse um die Thematik voraus. Das Buch ist deshalb nicht unbedingt als Einstiegs- und Überblickslektüre zu empfehlen. Piskorski besteht darauf, dass es bei aller gegenwärtig modischen "Europäisierung" der Diskurse um Zwangsmigrationen unterschiedliche Grade der schuldhaften Verstrickung und Verursachung gibt, die nicht in relativistischer Beliebigkeit aufgelöst werden dürfen. Gerade deshalb ist seine dezidiert polnische Sicht für das deutschsprachige Lesepublikum besonders aufschlussreich.
Anmerkungen:
[1] Die Originalausgabe erschien unter dem Titel: Polacy i Niemcy. Czy przeszłość musi być przeszkodą? [Polen und Deutsche. Muss die Vergangenheit ein Hindernis sein?], Poznań 2004.
[2] Peter Glotz: Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück, Berlin 2003. Vgl. hierzu die Rezension von Jaromír Balcar in sehepunkte 5 (2005), Nr. 7; URL: http://www.sehepunkte.de/2005/07/7032.html
Andreas R. Hofmann