Sönke Neitzel: 1900: Zukunftsvisionen der Großmächte, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002, 219 S., ISBN 978-3-506-76103-3, EUR 29,90
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Die jüngst überstandene Jahrtausendwende hat ein starkes Interesse an den Zeitenwenden der Vergangenheit ausgelöst. Wie haben die Menschen vergangener Epochen den Schritt in neue Jahrhunderte oder gar Jahrtausende wahrgenommen? Welche Erwartungen oder Befürchtungen hegten sie, wie beurteilten sie Vergangenheit und Zukunft? Besonders die gut dokumentierte Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lud immer wieder zu solchen Reflexionen ein. Die letzten Monate des Jahres 1999 und die ersten des Jahres 2000 hallten wider von Veröffentlichungen und Medien-Features aller Art, die die gegenwärtige Wende-Erfahrung in der Situation des Fin de siècle zu spiegeln versuchten.
Auch wenn man kalendarisch korrekt das dritte Jahrtausend erst mit dem 1. Januar 2001 beginnen lässt, kommt Sönke Neitzels Sammelband ein wenig spät daher. Das liegt daran, dass er auf den Vorträgen einer Sektion des Aachener Historikertages 2000 basiert. Das Erscheinen des Buches, das noch um einige Beiträge ergänzt wurde, hat sich unvermeidlicherweise verzögert. Dafür ist es aber gelungen, zu allen Staaten, die nach damaligem Verständnis als Großmächte galten, tatsächlich, wie der Titel verspricht, einen Beitrag zu präsentieren. Hinzu kommen Aufsätze von Gerd Krumeich zu den Vorstellungen eines künftigen Krieges und von Frank-Lothar Kroll zu der Frage, inwiefern bestimmte Ideen der Jahrhundertwende in die Programmatik der großen totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, Nationalsozialismus und Kommunismus, eingegangen sind. Eingeleitet wird der Band von Reflexionen Michael Salewskis zur Bedeutung von Jubiläen, Jahrestagen und "runden Zahlen" für das historische Bewusstsein.
Als erste Großmacht wird das Zarenreich porträtiert. Effi Böhlke sieht die politische Kultur Russlands um 1900 vor allem durch die Diskussion um das Verhältnis zum Westen charakterisiert. Den einen galt die westliche Moderne als Vorbild, der das rückständige Russland nachzueifern habe, den anderen als Schreckensbild, dessen Bekämpfung und Überwindung die Mission der russischen Nation sei. Eine dritte Gruppe forderte den friedlichen Ausgleich mit den Mächten - und Fortschrittskonzepten - Europas. In Deutschland beherrschten, wie Neitzel zeigt, vor allem Ideen von Konkurrenz und Wettbewerb die Debatte. Nur die Sozialdemokratie verfolgte internationalistische Ziele, das bürgerliche und das konservative Lager wollten die wachsende Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl Deutschlands dazu genutzt sehen, in der Rangfolge der Nationen auf die vordersten Plätze vorzustoßen. Nach wie vor verbanden sich diese Hoffnungen mit der Angst, dass man bei der Verteilung der Ressourcen der Erde zu kurz kommen könnte und dass damit der Niedergang des Reiches eingeleitet werde. Dieser Niedergang erschien den politischen Eliten Österreich-Ungarns geradezu unvermeidlich zu sein. Lothar Höbelt und Teresa Stochel-Nabielska machen in ihrem geistreich-pointierten Beitrag deutlich, dass es in Politik und Öffentlichkeit kaum eine Stimme gab, die der Habsburgermonarchie noch ein Entwicklungspotenzial oder gar eine "Mission" für das kommende Jahrhundert zusprach. In Frankreich (Martin Mayer) wurden optimistische Zukunftserwartungen dadurch gedämpft, dass das Land sowohl innenpolitisch in der Dreyfus-Affäre als auch außenpolitisch mit dem Faschoda-Konflikt eine der schwersten Krisen seit Jahrzehnten durchzustehen hatte. Hinzu kamen schlechte Zahlen bei der Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung, also gerade in jenen Bereichen, die für die Zukunftschancen einer Nation ausschlaggebend zu sein schienen. Folglich kann es nicht überraschen, dass es vor allem die politische Linke war, die Frankreich noch eine besondere Aufgabe im kommenden Jahrhundert zuerkannte: Sein zivilisatorischer Auftrag sollte in der Verbreitung sozialistischer Ideen bestehen.
Die beiden Beiträge zu den angelsächsischen Großmächten arbeiten einige interessante Parallelen heraus. Jeweils spielt die Verzahnung von innen- und außenpolitischen Zukunftsentwürfen mit der Frage der nationalen Identität eine wichtige Rolle. In den USA war die Orientierung an Leitbegriffen wie Demokratie und Freiheit zwar konsensuell, wie Ragnhild Fiebig-von Hase betont, aber es gab Streit um die Definition dieser Termini. Das konservative Establishment verstand unter Freiheit vor allem die Freiheit des Eigentums und die Freiheit von jeglicher Bevormundung durch den Staat. Dagegen bestanden die "Progressives" darauf, dass Klassenverhältnisse und Armut die Freiheit des Handelns und letztlich auch die politische Freiheit zerstörten - eine wirklich freie Gesellschaft pflege auch das republikanische Ideal der Tugend, das den Einzelnen auf das Gemeinwohl verpflichte. Die große Wirtschaftskrise 1893-97 habe gezeigt, welche zerstörerischen Wirkungen ein ungehemmter Kapitalismus auf die Gesellschaft insgesamt haben könne. Für die Konservativen galten im gleichen Sinne die hervorragenden Wirtschaftsdaten um 1900 als Beweis für die ungebrochene Gültigkeit der Leitidee des freien Marktes. Jede Veränderung sei ein Angriff auf die Prinzipien der Gründungsväter der USA. Progressive wie der spätere Präsident Theodore Roosevelt betonten hingegen, dass die Substanz der Republik gerade dadurch gerettet werde, dass man diese Prinzipien den veränderten Rahmenbedingungen einer komplexen Industriegesellschaft anpasse: "True Americanism" sei die ständige Bereitschaft zur Veränderung. Diese beiden Konzepte von Amerikanismus spielten auch in der Außenpolitik eine wichtige Rolle. Eine konservative Position, die den Kolonialbesitz strikt ablehnte, weil es seit jeher zu den Grundlagen des Selbstverständnisses der ehemaligen englischen Kolonie gehört habe, diese Form der Herrschaftsausübung kategorisch zu verurteilen, stand einer neuen Auffassung gegenüber, die das antikoloniale Verdikt für nicht mehr zeitgemäß hielt und auch die USA am vermeintlich lebenswichtigen Wettbewerb um den Kolonialbesitz beteiligen wollte. In unterentwickelten Ländern wie den Philippinen sei überdies, ganz im Geist der amerikanischen Sendung, ein Beitrag zum Fortschritt der Zivilisation zu leisten. Einig waren sich Konservative und Progressive freilich in dem grundsätzlichen Anspruch, dass den Vereinigten Staaten allein schon aufgrund ihrer herausragenden Wirtschaftskraft die Führungsrolle in der Weltpolitik zukomme. Als wichtigster Konkurrent hierbei galt Deutschland, während England schon auf dem absteigenden Ast gesehen wurde; die Gewichte innerhalb der angelsächsischen Welt würden sich im 20. Jahrhundert weiter nach Westen verlagern, England werde eines Tages nur noch der europäische Außenposten des Hegemons USA sein. In Europa wollten die USA im Übrigen nach Möglichkeit den Frieden erhalten. Verschiedentlich setzten sie sich dort zur Zeit der Jahrhundertwende für die Deeskalation von Konflikten ein. Motiv dieser Politik war einerseits die Angst vor den Rückwirkungen einer Parteinahme in einem möglichen Krieg auf die eigene multiethnische Gesellschaft. Andererseits ging es um ein ökonomisches Kalkül: "All unsere Interessen fordern den politischen Frieden", formulierte 1901 Henry Adams, "um uns die Führung des ökonomischen Krieges zu ermöglichen" (170).
Die nationale Identität Englands, so Jürgen Elvert, verband sich mit der Vorstellung eines charakteristischen 'Eigenweges' der Inselmacht: Statt auf Revolutionen habe man auf Reformen gesetzt, ein ausgeprägtes Unabhängigkeitsstreben habe zur Demokratie geführt, der Freihandel den Wohlstand begründet. Die Zukunft des Empire, so wollte es um 1900 eine große Gruppe von Prognostikern, sei am besten gesichert, wenn man weiterhin solchen Prinzipien vertraue. Dem widersprach eine Gruppe von einflussreichen Politikern und Publizisten um Joseph Chamberlain, John R. Seeley und James L. Garvin: Der Freihandel sei nicht mehr zeitgemäß, er begünstige nur die Konkurrenten Englands, die sich ihrerseits mehr und mehr hinter Schutzzöllen verschanzten. Das Empire werde auf die Dauer nur zu halten sein, wenn London es zu einem regelrechten Bundesstaat ausbaue, der zentral gelenkt werde und einen geschlossenen Wirtschaftsraum bilde. Außerdem dürfe auch bei der Auswanderung nicht mehr das Laissez-faire-Prinzip gelten, das einen ungeheuren Abfluss von Menschen in die USA erzeuge, sondern die Engländer müssten gezielt in den eigenen Kolonien angesiedelt werden. Im Ergebnis entstehe dann ein wirkliches Imperium, ein Groß-England, wo einst die Kolonien sogar mehr Verantwortung für das Ganze übernehmen könnten als das Mutterland - wie Kinder, die ihre alten Eltern stützen. Die Mehrheit der englischen Bevölkerung war von solchen Ideen allerdings nicht zu überzeugen. Bei den Parlamentswahlen von 1906 erhielten die "Chamberlainites" eine deutliche Abfuhr.
Sicherlich möchte ein Band, der die Zukunftsvisionen der Großmächte um 1900 vergleichend gegenüberstellt, vor allem ein breites Panorama entfalten. Dies gelingt hier ohne Frage: Der Leser wird mit zahlreichen Diskussionsfeldern bekannt gemacht, er stößt immer wieder auf Gedanken und Aspekte, die auch in der umfangreichen einschlägigen Literatur der letzten Jahre noch nicht behandelt worden sind. Mit dieser Stärke des Bandes verbindet sich aber auch eine unübersehbare Schwäche: Es fehlt an Geschlossenheit, die verschiedenen Aufsätze folgen keiner einheitlichen Methode oder sonstigen Systematik. Nicht nur die Beiträge miteinander bilden ein Sammelsurium, um es zugespitzt zu formulieren, sondern die einzelnen Aufsätze stellen auch in sich häufig noch einmal ein Sammelsurium von Aspekten und Themen dar. Wäre hier auf eine stärkere Vereinheitlichung der Vorgehensweise und Themenwahl gedrungen worden, hätte der Wert des Bandes für die Forschung sicherlich deutlich erhöht werden können. Darüber hinaus sind viele sprachliche Mängel zu beklagen. Der Autor des Frankreich-Artikels heißt abwechselnd Mayer (im Inhaltsverzeichnis, 5, und im Titel des Aufsatzes, 99) und Meyer (im Vorwort, 8, und im Autorenverzeichnis, 216); im Beitrag von Kroll weicht die Schreibweise der russischen Namen im Text von derjenigen im Literaturverzeichnis ab; ansonsten liest man "Dreyfuss" (8), "unentgeldlich" (140) und "subsummiert" (159), um nur einige besonders gravierende Beispiele zu nennen.
Frank Becker